Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Massenproteste in russischer Provinz
Tausende machen Front nach Verurteilung von systemkritischem Umweltschützer
- Die Straßenschlacht vor dem Gebäude des Kreisgerichts von Baimak wogte hin und her. Die Polizisten setzten Schlagstöcke, Tränengas und Blendgranaten ein, als Antwort hagelte es Schneebälle, Eisklumpen und wütende „Leckt uns am Arsch!“Rufe.
Gestern hat das Kreisgericht des 18.000-Seelen-Städtchens Baimak im Südosten der Republik Baschkortostan den Umweltaktivisten Fail Alsynow zu vier Jahren Straflager verurteilt. Ein überraschend hartes Urteil, viele der geschätzt drei- bis zehntausend Sympathisanten, die sich auf dem Platz vor dem Gerichtsgebäude versammelt hatten, hofften auf eine Bewährungsstrafe. Alsynow auch. „Damit habe ich nicht gerechnet. Wir werden in Berufung gehen“, sagte er, bevor man ihn in Handschellen abführte.
Die Menge draußen skandierte „Schande“, die Sicherheitskräfte versuchten, sie zurückzudrängen, um den Abtransport des Verurteilten mit einem Polizeibus zu ermöglichen. Seit Jahren hat Russland solchen Protestlärm nicht mehr gehört.
Es geht um laute Worte und alte Rechnungen. Republikchef Radij Chabirow hatte den Prozess gegen Alsynow persönlich mit einer Anzeige in Gang gebracht. Und Staatsanwaltschaft wie Richterin übernahmen seine Behauptung, der Ökopatriot habe ethnischen Hass geschürt. Anlass war eine Rede Alsynows bei einer Versammlung im April 2023 in dem Dorf Ischmursino, dessen Einwohner sich gegen eine geplante Goldmine wehrten. Dort hatte Alsynow auf baschkirisch erklärt, im Gegensatz zu den einheimischen Baschkiren könnten nach der Ausbeutung der Grube Armenier,
Russen oder Tataren wieder nach Hause fahren, ebenso die „kara chalyik“. Wörtlich übersetzt „schwarze Leute“, umgangssprachlich bedeutet es „einfaches Volk“. Ein Sachverständiger der Staatsanwaltschaft aber interpretierte es als „Schwarzärsche“, ein russisches Schimpfwort, das Kaukasier und Mittelasiaten verunglimpft.
Eine gewagte Übersetzung. Alsynow selbst vermutet dahinter persönliche Rache des Republikchefs. Denn Alsynow gehörte zu den Aktivisten, unter deren Leitung 2020 die Anwohner des Berges Kuschtau nach Massenschlägereien mit Polizei und Wachschützern ein von Chabirow unterstütztes Soda-Abbauprojekt verhinderten. Am Ende stellte sich Wladimir Putin persönlich auf die Seite des Volkes, der Kuschtau wurde Naturschutzgebiet.
In der muslimischen Ural-Republik, deren Dörfer im Gegensatz zu vielen russischen Regionen noch sozial wie wirtschaftlich funktionieren, sind Konflikte zwischen Dorfbewohnern und
Bergbauunternehmern seit Jahren an der Tagesordnung. „Die Leute wehren sich einfach dagegen, dass man ihre Berge in die Luft jagt und ihren Lebensraum in riesige Baugruben verwandelt“, sagt der Moskauer Politologe Jurij Korgonjuk, der selbst aus Südbaschkirien stammt. Jetzt verteidige das Volk dort den populären Umweltschützer Alsynow genauso spontan und entschlossen.
Schon mutmaßen Exiloppositionelle, ob der baschkirische Protest Signalwirkung für ganz Russland haben könnte. Auch weil Alsynow schon im Dezember 2022 zu einer Geldbuße von umgerechnet gut hundert Euro verurteilt wurde – er hatte den massiven Einsatz seiner Landsleute bei Putins „Kriegsspezialoperation“als „Genozid am baschkirischen Volk“bezeichnet. „Das ist nicht unser Krieg!“Und in den vergangenen Tagen unterstützten auch Frontsoldaten aus der Region Alsynow mit Videoposts. Aber laut dem baschkirischen Journalist Ruslan Walijew steht ein Großteil der dörflichen Naturschützer, die jetzt in Baimak für Alsynow auf die Straße gingen, politisch hinter Wladimir Putin und seinem Ukraine-Feldzug. Bei einer Kundgebung am Montag rief ein Lokalaktivist in Baimak Putin auf, Republikchef Chabirow abzusetzen.
Aber der scheint diesmal die Rückendeckung des Kremls zu haben. Schon am Dienstag hatte die Zentralbehörde Rosfinmonitoring Alsynow auf die Liste der russischen Extremisten gesetzt. Obwohl dieses Jahr in Baschkortostan Gouverneurswahlen anstehen und in ganz Russland Präsidentschaftswahlen, setzt die Staatsmacht auf Härte. Vor dem Urteilsspruch wurden mehrere Mitstreiter Alsynows festgenommen, gestern erlitten etwa 20 Demonstranten das gleiche Schicksal.