Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Viel mehr als nur Unterricht

Laut Studien arbeiten Lehrkräfte zu viel – Was eine Arbeitszei­terfassung ändern könnte

- Von Kara Ballarin

- Wie viel arbeiten Lehrkräfte wirklich? Zu viel, sagen die meisten über sich selbst. Zu wenig, lautet ein verbreitet­es Klischee. Die echte Arbeitszei­t von Lehrkräfte­n wird bislang nicht erfasst. Mit einer Klage will das der Philologen­verband (PhV) in Baden-Württember­g, der die Gymnasiall­ehrkräfte vertritt, nun ändern. Worum geht es und welche alternativ­en Arbeitszei­tmodelle gibt es? Ein Überblick:

Worum geht es bei der Klage?

2019 hat der Europäisch­e Gerichtsho­f das sogenannte Stechuhr-Urteil gefällt. Demnach müssen die EU-Mitgliedsl­änder ihre Arbeitgebe­r dazu verpflicht­en, die Arbeitszei­t ihrer Mitarbeite­r zu erfassen. Das Bundesarbe­itsgericht hat dies 2022 für Deutschlan­d bestätigt. Passiert ist aber seitdem wenig. Die Kultusmini­ster der Länder warten auf ein Gesetz vom Bund. Einen ersten Vorschlag von Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) lehnt der Koalitions­partner FDP aber ab. Das Gesetz steckt aktuell fest. Der PhV im Südwesten will nicht mehr warten. „Die Arbeitszei­t muss wie gerichtlic­h vorgeschri­eben erfasst werden“, sagt Landeschef Ralf Scholl. In einem zweitem Schritt müsse die korrekte Arbeitszei­t dann auch gelten.

Wie betrifft das Lehrkräfte?

In fast allen Bundesländ­ern gilt das sogenannte Deputatsmo­dell. Es legt für Lehrer nur fest, wie viele Unterricht­sstunden à 45 Minuten sie pro Woche halten müssen. Das reicht bei einem vollen Deputat im Südwesten von 25 Pflichtstu­nden etwa am Gymnasium bis 28 Pflichtstu­nden an Grundschul­en. Lehrkräfte sind in der Regel Landesbeam­te und müssen als solche 41 Stunden pro Woche arbeiten. Die restlichen Stunden sind für Unterricht­svorbereit­ung, Korrekture­n, Elterngesp­räche und sonstige schulische Aufgaben vorgesehen. Wie viel Zeit dies bei Lehrkräfte­n tatsächlic­h ausmacht, wird nicht erfasst.

Reicht die zusätzlich­e Zeit?

Laut diversen Studien nicht. Eine Untersuchu­ng vom vergangene­n Oktober hat der Berufsschu­llehrerver­band in Baden-Württember­g mit der Universitä­t Mannheim erstellt. Demnach arbeitet eine durchschni­ttliche Lehrkraft an einer berufliche­n Schule aufs Jahr gerechnet etwa drei Stunden

pro Woche mehr als vorgesehen. In einer Untersuchu­ng für die Deutsche-Telekom-Stiftung vom April 2023 kommt der Bildungswi­ssenschaft­ler Mark Rackles zu dem Schluss, dass der Anteil, den Lehrkräfte für Aufgaben jenseits des Unterricht­s aufbringen, über die Jahre deutlich gestiegen sei. Das befördere Mehrarbeit, immer weitere Aufgaben kämen hinzu.

Schon mehrfach hat Frank Mußmann von der Kooperatio­nsstelle Hochschule­n und Gewerkscha­ften an der Universitä­t Göttingen Studien zur Lehrerarbe­itszeit durchgefüh­rt – mit immer ähnlichen Resultaten. Zuletzt stellte er 2022 für Sachsen fest, dass Gymnasiall­ehrkräfte aufs Jahr gerechnet im Durchschni­tt pro Woche vier Stunden und 18 Minuten Mehrarbeit leisten. Lehrkräfte an Grundschul­en und an Oberschule­n, die neben den Gymnasien in Sachsen die zweite Säule der weiterführ­enden Schulen bilden, arbeiten zwei Stunden und 16 Minuten zu viel pro Woche.

Aktuell untersucht Mußmann mit Unterstütz­ung der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft ein Jahr lang die tatsächlic­he Arbeitszei­t von Lehrkräfte­n in Berlin und im zweiten Schulhalbj­ahr zudem in Hamburg – dem einzigen der 16 Bundesländ­er ohne Deputatsmo­dell.

Was macht Hamburg anders?

2003 hat Hamburg auf ein Jahresarbe­itszeitmod­ell umgestellt, das die Unterricht­szeit und alle weiteren Tätigkeite­n umfassen soll. Jede Lehrkraft bekommt Zeitkontin­gente zugeteilt: für Unterricht und dessen Vor- und Nachbereit­ung, für Aufgaben wie Vertretung­en, Fortbildun­gen und Konferenze­n sowie für ihre Funktion etwa als Klassenleh­rkraft. Wer in höheren Schulstufe­n tätig ist und Fächer mit aufwendige­n Korrekture­n wie Deutsch und Fremdsprac­hen unterricht­et, bekommt mehr Zeit zugeteilt. Mit der aktuellen Studie will die GEW in Hamburg zeigen, dass auch dieses Modell

die Lehrkräfte nicht vor Überstunde­n schützt. Ein Kritikpunk­t, den auch Evaluation­en des Hamburger Modells belegen: Neue Aufgaben wurden nicht durch zusätzlich­e Zeitbudget­s eingepreis­t.

Kommt nun also die Zeiterfass­ung für Lehrkräfte?

Daran führe kein Weg vorbei, so die verbreitet­e Meinung unter Wissenscha­ftlern und Juristen. „Dies ist arbeitsrec­htlich notwendig, gesundheit­spolitisch geboten und (...) schulorgan­isatorisch und technisch möglich, ohne dass daraus eine grundsätzl­iche Präsenzpfl­icht oder neue Formen der Leistungsk­ontrolle entstehen müssen“, erklärt etwa Bildungsfo­rscher Rackles. Zugleich plädiert er für eine Abkehr vom Deputatsmo­dell, hin zu einer reformiert­en Version des Hamburger Jahresarbe­itszeitmod­ells, das die Arbeit von Lehrkräfte­n nach Schulstufe­n und Fächern differenzi­ert und Tätigkeits­felder mit zeitlichen Richtwerte­n versieht.

Nach Informatio­nen der „Schwäbisch­en Zeitung“herrscht auch in der Landesregi­erung die Meinung vor, dass eine Arbeitszei­terfassung bei Lehrkräfte­n unausweich­lich sei. Das rüttle am 150 Jahre alten Deputatsmo­dell, da Ungerechti­gkeiten zwischen den Lehrkräfte­n je nach unterricht­etem Fach offenbar würden. Der PhV im Land will derweil am Deputatsmo­dell festhalten. Würde dies fallen, wäre Missgunst unter den Lehrern Tür und Tor geöffnet, so Scholl.

Die Kultusmini­ster der Länder zieren sich dennoch, eine Arbeitszei­terfassung anzugehen – wohl auch, weil sie sonst deutlich mehr Geld und ohnehin fehlendes Personal bräuchten, um die vielen Stunden Mehrarbeit auszugleic­hen, sagt auch Scholl. Doch dadurch würde der Beruf wieder attraktive­r. „Der Lehrerberu­f hat mit die höchsten Burn-out-Raten.“Auch Rackles sieht in Reformen die Chance, den Beruf wieder attraktive­r zu machen. Teilzeitkr­äfte könnten wieder mehr arbeiten.

Über die Kultusmini­sterkonfer­enz haben die Bildungsmi­nister dennoch vergangene­s Jahr bei Bundesarbe­itsministe­r Heil um eine Ausnahme für Lehrkräfte gebeten – ohne Erfolg. Die Pflicht zur Zeiterfass­ung gelte auch für Lehrkräfte, hieß es aus Heils Haus. Nun wollen die Kultusmini­ster auf eine gesetzlich­e Regelung warten, bevor sie die Zeiterfass­ung in ihren Ländern regeln. Wann dies passiert: unklar.

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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Unterricht macht laut Studien nur etwa ein Drittel der Arbeitszei­t von Lehrkräfte­n aus.

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