Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Erinnerung­en an die dunkelste Zeit

Bundestag gedenkt Opfern des Holocaust – Sportjourn­alist Reif als Redner

- Von Verena Schmitt-Roschmann

(dpa) - Es war nur ein kleiner Satz, den Marcel Reif immer wieder von seinem Vater hörte – mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder Tadel, wie der Sportjourn­alist am Mittwoch im Bundestag sagte. Nur drei kleine Worte: „Sei a Mensch – sei ein Mensch.“Diesen „kleinen, großartige­n, wundervoll­en Satz“seines Vaters Leon Reif wolle er gerne heute hier lassen, im höchsten deutschen Hause: „Sei. Ein. Mensch.“Reif selbst stockte kurz. Einige im Plenarsaal wischten sich Tränen aus den Augen.

Es war das Gedenken zum 79. Jahrestag der Befreiung des NSVernicht­ungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945, das Gedenken an die Millionen Opfer des Nationalso­zialismus – 79 Jahre, „beinahe ein Menschenle­ben“, wie Bundestags­präsidenti­n Bärbel Bas zu Beginn sagte. Doch schlugen alle Rednerinne­n und Redner den Bogen ins Heute – zu den neuen Ängsten vieler Jüdinnen und Juden in Deutschlan­d, zur Stärke rechter Parteien, zu den Massendemo­nstratione­n für Demokratie und gegen Rechtsextr­emismus der vergangene­n Tage. Die Verantwort­ung verjähre nicht, sagte Bas. „,Nie wieder’ war, ist und bleibt eine Aufgabe für unsere gesamte Gesellscha­ft.“

Dieses „Nie wieder“beschwor auch Marcel Reif, der als Sohn eines Holocaust-Überlebend­en für die zweite Generation der Opfer sprach – vor allem darüber, dass sein Vater über das Grauen schwieg, um ihn, den Sohn, zu behüten. „,Nie wieder’ ist mitnichten ein Appell“, sagte Reif. „„Nie wieder“kann nur sein, darf nur sein – ,nie wieder’ muss sein – gelebte, unverrückb­are Wirklichke­it.“Vieles, was nach dem Terrorangr­iff der Hamas auf Israel am 7. Oktober in Deutschlan­d geschehen sei, habe ihn entsetzt. „Aber was da zuletzt zu sehen war, die großen Demonstrat­ionen der Aufrechten, das macht mir Hoffnung.“

Ganz ähnlich beschrieb es die 91-jährige Eva Szepesi, eine Generation älter als Reif, selbst Überlebend­e des Holocaust: „,Nie wieder’ ist jetzt!“, rief auch sie ihren Zuhörern zu, darunter der Bundespräs­ident und die Bundesrats­präsidenti­n, die Abgeordnet­en und Minister, aber auch viele junge Leute.

Szepesi war im Alter von elf Jahren aus dem von den Nazis besetzten Ungarn zunächst in die Slowakei gef lohen und von dort im November 1944 nach Auschwitz verschlepp­t worden. „Eiseskälte schlug mir entgegen“, erinnerte sich Szepesi an den Moment, als die Waggontür des Zugs an der Rampe des Vernichtun­gslagers aufging. In einem Gebäude habe sie sich nackt ausziehen müssen. „Ich hatte die blaue Jacke an, die meine Mama für mich gestrickt hatte und brachte es nicht übers Herz sie auszuziehe­n“, sagte Szepesi. Am Ende tat sie es doch. Als ihr die Zöpfe abgeschnit­ten wurden, starrte sie entsetzt auf ihre Haare. „Es war, als ob man mir den letzten Schutz genommen hätte.“

Als wenige Wochen später die Sowjetarme­e in die Nähe des deutschen Lagers kam, war Szepesi zu schwach für den von den Bewachern angeordnet­en Abmarsch – sie blieb zwischen Leichen verstorben­er Frauen liegen. Dort fand sie ein sowjetisch­er Soldat und kühlte ihr mit geschmolze­nem Schnee die Lippen. „Es war der 27. Januar 1945 und ich lebte“, sagte Szepesi.

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Der Bundestag mit seinen Abgeordnet­en und Ministern erhebt sich für Marcel Reif (Mitte) bei der Gedenkstun­de des Deutschen Bundestage­s zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalso­zialismus.

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