Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Homo sapiens schon vor 45.000 Jahren in Thüringen

Neue Funde in Höhle zählen zu frühesten Nachweisen des modernen Menschen in Eurasien

- Von Walter Willems

(dpa) - Trotz eisiger Kälte: Der Homo sapiens besiedelte Mittel- und auch Nordwesteu­ropa schon deutlich früher als bisher bekannt. Funde aus der Ilsenhöhle in Thüringen belegen, dass moderne Menschen dort schon vor mindestens 45.000 Jahren lebten – damals war es etwa sieben bis 15 Grad kälter als heutzutage. Das zeige, wie gut sich schon der damalige Mensch an raue Umweltbedi­ngungen anpassen konnte, schreibt ein internatio­nales Forschungs­team um Jean-Jacques Hublin vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionä­re Anthropolo­gie. Zudem zeigen die drei in den Fachjourna­len „Nature“und „Nature Ecology & Evolution“veröffentl­ichten Studien, dass Mensch und Neandertal­er über Jahrtausen­de in Europa koexistier­ten – möglicherw­eise sogar mehr als 10.000 Jahre lang.

Die Funde aus dem Ort Ranis bei Saalfeld bringen gleich mehrere Annahmen von Paläontolo­gen ins Wanken. Bisher dachte man, dass der moderne Mensch Europa erst vor etwa 40.000 Jahren besiedelte und nur vereinzelt früher auftauchte. Und bestimmte, teilweise beidseitig bearbeitet­e Steinkling­en, die älter sind und auch in Nordwesteu­ropa auftauchte­n, wurden bisher Neandertal­ern zugeordnet, die schon viel früher auf dem Kontinent lebten und vor etwa 40.000 Jahren verschwand­en.

Doch in der Ilsenhöhle fand das Team um Hublin neben diesen sogenannte­n LRJ-Klingen Knochenres­te, deren DNA eindeutig vom Homo sapiens stammt. Demnach gehen LRJ-Steinkling­en, die unter anderem in Großbritan­nien entdeckt wurden, ebenfalls auf den Homo sapiens zurück.

„Die Fundstelle in Ranis erbrachte den Beweis für die erste Ausbreitun­g vom Homo sapiens in die nördlichen Breiten von Europa“, sagte Hublin, emeritiert­er Direktor des Leipziger Max-PlanckInst­ituts. „Es ist jetzt sicher, dass Steingerät­e, von denen man dachte, dass sie von Neandertal­ern hergestell­t wurden, definitiv von modernen Menschen stammen.“

Die unmittelba­r unter der Burg Ranis gelegene Ilsenhöhle wurde bereits in den 1920er- und 1930erJahr­en ausgiebig erforscht. Doch bei Grabungen nach 2016 schürfte das Team nun tiefer – und stieß unter dem eingestürz­ten Höhlendach auf Tausende zersplitte­rte Knochenfra­gmente. Manche davon stammen eindeutig von modernen Menschen, andere von Tieren.

„Die archäozool­ogischen Untersuchu­ngen zeigen, dass die Höhle in Ranis abwechseln­d von Hyänen, überwinter­nden Höhlenbäre­n und kleinen Menschengr­uppen genutzt wurde“, erklärte Ko-Autor Geoff Smith von der englischen Universitä­t Kent. „Obwohl diese Menschen die Höhle nur über kurze Zeiträume nutzten, verzehrten sie Fleisch einer Reihe von Tieren, darunter Rentiere, Wollnashör­ner und Pferde.“

Isotop-Analysen von Pferdezähn­en zeigten, dass in der Region insbesonde­re vor etwa 44.000 Jahren ein sehr kaltes Kontinenta­lklima vorherrsch­te. Damals glich die Gegend einer offenen Steppe wie im heutigen Sibirien. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass selbst diese frühen Homo-sapiens-Gruppen, als sie sich über Eurasien ausbreitet­en, schon in der Lage waren, sich an solch raue klimatisch­e Bedingunge­n

anzupassen“, sagte Co-Autorin Sarah Pederzani von der Universitä­t La Laguna auf Teneriffa. „Bisher ging man davon aus, dass die Widerstand­sfähigkeit des Menschen gegen kalte Klimabedin­gungen erst mehrere Tausend Jahre später entstand.“Möglicherw­eise zogen Menschen auf der Jagd nach größeren Tierherden sogar gezielt in die kalte Region.

Vor Kurzem hatten Studien aus der Grotte Mandrin im südfranzös­ischen Rhonetal für Aufsehen gesorgt. Dort hatte ein Forschungs­team Hinweise auf Menschen gefunden, die 54.000 Jahre alt waren. Dies stieß in der Fachwelt zwar auf Zurückhalt­ung, doch das Team um Hublin schreibt: „Im Falle einer Bestätigun­g würde dies ein komplexes Mosaikbild für Europa ergeben.“

Unklar ist, ob die frühen Bewohner der Ilsenhöhle dauerhaft in Mitteleuro­pa lebten oder nur saisonal nach Norden vorstießen, etwa in Form kleiner mobiler Jagdtrupps. Wie dem auch sei: Spuren im Erbgut heutiger Europäer hinterließ­en sie nicht. Die genetische Linie dieser frühen Menschen starb irgendwann aus.

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