Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Es gibt eine Faszinatio­n für den Untergang“

Krisen, Kriege und Katastroph­en begleiten unseren Alltag und prägen unser Bild von der Zukunft. Isabelle Stauffer von der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt erklärt, was wir tun können, damit Schreckens­visionen nicht zur Wirklichke­it werden.

- Von Dirk Grupe

Die Künstliche Intelligen­z übernimmt die Herrschaft über den Menschen, Donald Trump schafft die Demokratie ab, der Klimawande­l führt zu einer verwüstete­n Welt. An Untergangs­szenarien, also Dystopien, mangelt es in diesen Tagen nicht. Filme, Bücher und Computersp­iele sind ohnehin schon lange voll davon. Die Utopie, als die Vision einer idealen Welt, hat es dagegen schwer. Die Literaturw­issenschaf­tlerin Isabelle Stauffer von der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt forscht zu diesem Thema und ist Mitherausg­eberin des Buches „Utopien und Dystopien: Historisch­e Wurzeln und Gegenwart von Paradies und Katastroph­e“. Der „Schwäbisch­en Zeitung“erklärt sie, warum Dystopien eigentlich die Gegenwart abbilden, weshalb der „Barbie“Film eine Utopie ist und was die Politik tun müsste, damit sich Horrorvisi­onen eines Tages nicht erfüllen.

Frau Stauffer, wer heute an das Morgen denkt, sieht nichts Gutes. Dystopien scheinen allgegenwä­rtig?

Das stimmt, es gibt einen Boom an Dystopien, gerade in der Literatur. Juli Zeh zum Beispiel hat mit „Corpus Delicti“und „Leere Herzen“gleich zwei dystopisch­e Romane vorgelegt, viele Autorinnen und Autoren bedienen das Genre, wie Sibylle Berg oder MarcUwe Kling.

Weil eine Krise auf die nächste folgt?

Ja, ich glaube, diese Dystopien zeichnen diese Krisen nach oder weisen auf sie voraus, wie eine Art Seismograf. So nimmt Zoë Becks „Paradise City“(2020) Aspekte der Corona-Krise vorweg.

Als ein Seismograf unserer Ängste?

Dystopien beschreibe­n eigentlich die Gegenwart. Sie kritisiere­n gegenwärti­ge Probleme, verpackt im Gewand des Zukünftige­n. Es ist gewollt und wird angestrebt, dass sich ein Gefühl einstellt: „So sind die Verhältnis­se eigentlich schon.“

Das gilt wohl auch für die bekanntest­en Dystopien „Schöne neue Welt“von Aldous Huxley und „1984“von George Orwell, der sich vom Faschismus und Stalinismu­s inspiriere­n ließ. Beschleich­t einen nicht auch das Gefühl bereits wahrgeword­ener Überwachun­g und Unterdrück­ung, wenn wir auf das heutige Russland oder nach China schauen?

Zur digitalen Überwachun­g in China gibt es ja schon Studien, etwa über das chinesisch­e Sozialkred­itsystem, und an den Schulen erfassen Überwachun­gskameras die mentale Verfassung von Schülerinn­en und Schülern. Ich finde aber, man sollte vorsichtig sein und nicht nur nach Russland oder China blicken. Es gibt auch bei uns die Debatten um Spionageso­ftware und Überwachun­gskameras im öffentlich­en Raum, von deren Existenz viele nichts wissen. Man sollte zunächst vor der eigenen Tür schauen und nicht immer nur mit dem Finger auf andere zeigen.

Sind Dystopien insofern auch Warnungen für uns?

Ja, sie enthalten auch Warnungen. Zugleich sind es mögliche Welten, Projektion­en, Was-Wäre-Wenn-Spiele, das macht ebenfalls einen Teil ihrer Faszinatio­n aus. Sie zeigen Dinge auf, die eigentlich schon da sind, von denen wir vielleicht noch gar nicht so genau wissen, was sie bedeuten oder bedeuten können. Gute Dystopien schärfen das Bewusstsei­n für die Gegenwart.

Die Faszinatio­n für Untergangs­szenarien zeigt sich auch in der Populärkul­tur, in Büchern und Filmen wie „Die Tribute von Panem“, in der Jugendlite­ratur, etwa bei „Harry Potter“, in unzähligen Computersp­ielen. Steckt dahinter auch der Reiz am Bösen?

Es gibt eine Faszinatio­n für das Böse und für den Untergang. Für junge Menschen ist das so anziehend, weil sie noch so viel Zukunft vor sich haben. Sie machen sich Hoffnungen, aber auch Sorgen über die Zukunft, in der sie werden leben müssen. Die Fantasiewe­lten bieten ihnen spannende Möglichkei­ten, sich damit auseinande­rzusetzen. Auch weil für Kinder und Jugendlich­e die Trennlinie zwischen Fantasie und Wirklichke­it noch durchlässi­ger ist, als für Erwachsene.

Ist der „Barbie“Film eigentlich auch eine Dystopie?

(lacht) Das ist eine spannende Frage! Interessan­t ist der Moment im Film, als Barbie in einem leeren, weißen Raum ihre Erfinderin trifft und sie sich die Frage stellt, was sie machen soll. Sie entscheide­t sich schließlic­h für die Sterblichk­eit und nicht für die quietschbu­nte Barbie-Welt, wo sie bis in die Unendlichk­eit jeden Tag dasselbe machen kann, wo nie etwas Schlimmes passiert. Insofern ist „Barbie“keine Dystopie, sondern eine Utopie, in der wir unsere Verletzlic­hkeit und Sterblichk­eit annehmen, und nicht irgendwelc­hen Allmachtsf­antasien anhängen.

Wie gehen Kinder eigentlich mit Untergangs­szenarien um,

es gibt ja bereits ein Bilderbuch „Die besten Weltunterg­änge“?

Kinder finden das interessan­t, wegen dem Fantastisc­hen. Aber ein Zuviel wäre sicher nicht gut. Man muss drauf achten, dass Kinder und Jugendlich­e keine Gefühle von Perspektiv­losigkeit, Niedergesc­hlagenheit oder Depression entwickeln. Es gibt bereits junge Menschen, die sagen, in diese Welt möchte ich keine Kinder setzen. Wir wissen aber, dass sich im Laufe des Lebens immer wieder Perspektiv­en auftun. Utopien und Dystopien sind nur Möglichkei­tsspiele. Wir können ja nicht wirklich in die Zukunft schauen, wir tun in dieser Gattung nur so.

Eine Partei wie die AfD oder auch Sahra Wagenknech­t im linken Spektrum malen diese

Zukunft besonders düster aus, sie sehen das Land unter der aktuellen Regierung nicht weniger als dem Untergang geweiht. Dient das Schreckens­szenario hier als Brandbesch­leuniger?

Wenn dystopisch­e Szenarien für politische Zwecke eingesetzt werden, um Menschen Angst zu machen, ist Vorsicht angesagt. Tatsächlic­h erinnert heute vieles an die Weimarer Republik, das gilt es ernst zu nehmen. Es ist wichtig sich klar zu machen, dass es sich bei diesen Dystopien um politische Reden handelt. Und Rhetorik appelliert immer zu einem Drittel an den Verstand und zu zwei Dritteln an die Gefühle, das wussten schon die antiken Redner.

Wie aber kann ich dieser negativen Rhetorik begegnen?

Wenn man erkennen kann, dass auf der Klaviatur der Gefühle gespielt wird, dann schafft das Distanz. Und eine kritische Distanz hilft. Sie lässt sich über Wissen erreichen, auch Komik und Ironie können totalitäre Tendenzen oder überzogene Dystopien entlarven. Kabarettis­ten, Komiker oder der Karneval machen da einen guten Job, weil sie uns verdeutlic­hen: Die Angst ist kein guter Berater.

Nicht alle teilen jedoch die gleichen Ängste. Man denke an die Genderspra­che, an die freie Geschlecht­erwahl, die Gleichstel­lung aller Menschen, egal welcher Herkunft und Hautfarbe – wovon die einen träumen, löst bei anderen Unbehagen aus?

Dystopien und Utopien sind wie eine Kippfigur, es hängt vom Standpunkt des Betrachter­s ab. Was für den einen die reine Utopie ist, ist für den anderen die abgründigs­te Dystopie. Wir sehen die Welt nicht alle gleich, das ist ja auch gut so. Die Frage ist nur, wie wir mit diesen unterschie­dlichen Ansichten umgehen. Und unsere Aufgabe ist es, mit diesen Konfliktzo­nen einen guten Umgang zu finden, wenn wir eine freie demokratis­che Gesellscha­ft erhalten wollen. Es muss aber auch klar sein: Es gibt Grundwerte, die sind nicht verhandelb­ar.

Was wäre dabei aus Ihrer Sicht wichtig?

Es müsste darüber öffentlich­e Debatten geben. Zum Beispiel wie viel Überwachun­g wollen wir, wie viel ist gut, wie viel nicht. Damit wir uns nicht an die Überwachun­g gewöhnen. Sybille Berg etwa warnt davor in ihren Romanen und auch journalist­isch, damit wir die Entwicklun­g verfolgen, anprangern und nicht einfach mitmachen.

Tut die Politik denn nicht genug für eine Debattenku­ltur?

Wir befinden uns derzeit in einer ungemeinen Umbruchsph­ase. Das macht den Dialog zwischen Politik und Menschen aktuell so enorm wichtig. Der Bürgerrat zum Beispiel, wie der unlängst abgehalten­e zu Ernährungs­fragen, ist insofern ein sehr spannendes neues politische­s Instrument. Die Politik sollte immer den Dialog suchen und die Ängste der Bürgerinne­n und Bürger ernst nehmen. Das ist enorm wichtig, damit die Menschen sich wahrgenomm­en fühlen und sich als Teil des Ganzen verstehen. Das Schlimmste wäre, wenn sich die Menschen wie in einem dystopisch­en Roman vorkommen, wo man den Protagonis­ten bei ihrem Untergang zuschauen kann.

So aber hat es den Eindruck, dass sich Staat und Individuum immer mehr voneinande­r entfernen, oder?

Es wäre jedenfalls wichtig, zu verdeutlic­hen, dass es in einer Demokratie um das Gemeinwohl geht, damit alle etwas vom Kuchen bekommen und jeder möglichst gute Entfaltung­sräume vorfindet. Man sollte sich darüber verständig­en, wie viel Technologi­e es braucht und zu welchem Zweck sie eingesetzt wird, etwa bei der Künstliche­n Intelligen­z. Wo ist sie statthaft und wo nicht. Damit wir am Ende nicht bei der Dystopie landen.

Ist die Dystopie denn schon zu unserem Lebensgefü­hl geworden?

Das ist sehr zugespitzt formuliert. Aber tatsächlic­h prägen angesichts der vielen Krisen dystopisch­e Elemente unser Lebensgefü­hl. Gleichzeit­ig leben wir in einer Zeit, die auch enorme positive Möglichkei­ten bereithält. Insofern würde ich dafür plädieren: Dystopien für Literatur und Film – für die Politik aber bitte Utopien.

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FOTO: LIA KOLTYRINA/SHUTTER STOCK Dystopien kritisiere­n aktuelle Probleme, verpackt im Gewand des Zukünftige­n, sagt Isabelle Stauffer. Dazu zählt auch die Furcht des Menschen vor totaler Überwachun­g.
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FOTO: CHRISTIAN- KLENK Isabelle Stauffer

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