Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Die Schiri-Familie
Immer weniger Ehrenamtliche wollen als Schiedsrichter im Amateurfußball pfeifen. Eine Familie aus Heilbronn stellt gleich vier Unparteiische. Sie sind unermüdlich im Einsatz.
- In Frauenzimmern, einem Weindorf bei Heilbronn, spielt an einem Samstagabend der Letzte der A-Junioren-Kreisstaffel gegen den Vorletzten. 20 Zuschauer haben sich auf den Sportplatz verirrt, hinter dem Tor tuckert ein Traktor vorbei und weil der Torhüter der Heimelf beim Warmschießen kaum einen Schuss hält, tauscht der Trainer ihn nur wenige Minuten vor dem Anpfiff kurzerhand gegen einen Feldspieler aus.
Doch dann führt Schiedsrichter Hasan-Fazlı Koçak die beiden Teams auf den Rasen und lässt sie am Mittelkreis in Reih und Glied stehen. Andächtige Stille breitet sich über dem Gras aus. Die Spieler laufen in ihre Hälften und Koçak, ganz in Schwarz gekleidet, baut sich mit seinen 1,92 Metern und 120 Kilo konzentriert vor den beiden Kapitänen auf, um die Platzwahl zu regeln. Münzwurf, Seitentausch, ein Blick auf die Armbanduhr. Dann streicht er sich durch den grauen Vollbart, blickt auf die Zuschauer am Seitenrand, krallt seine Pfeife und bläst bundesligareif hinein. Den Pfiff hätte im Stuttgarter Neckarstadion jeder Zuschauer gehört. „Auch diese Mannschaften brauchen einen ordentlichen Schiedsrichter“, wird er nachher in der Halbzeit sagen.
Hasan-Fazlı Koçaks Bilanz ist unfassbar: In der Saison 2022/23 leitete er 186 Spiele. Im Schnitt pfeift Koçak also jeden zweiten Tag ein Spiel. Einer seiner SchiriKollegen sagt: „Wenn mal jemand ausfällt, kannst du den Hasan zwei Stunden vor Anpfiff anrufen, der kommt und pfeift das Spiel mit einer unglaublichen Ruhe runter.“Doch die Geschichte wird noch besser. Denn nicht nur Hasan-Fazlı Koçak pfeift ein Spiel nach dem anderen – sondern auch sein Bruder, sein Sohn und sein Neffe. Die Koçaks aus Heilbronn sind eine durch und durch schiedsrichterverrückte Familie.
Ein paar Stunden vor dem Spiel, es ist neun Uhr morgens. Hasan-Fazlı Koçak trägt noch seine Arbeitsjacke, als er sich in der Kantine der Heilbronner Moschee einen Teller Linsensuppe bestellt. Der 53-Jährige arbeitet im Zentrallager von Edeka, Nachtschicht von Sonntag bis Freitag, der heutige Samstag ist sein einziger freier Tag. Koçak war um sieben Uhr morgens nach Hause gekommen, hatte sich kurz hingelegt und war dann in die Moschee gefahren. Als er nun mit seinem Tablett durch den Speisesaal läuft, steuert er auf einen Tisch im hinteren Eck zu. Dort warten drei Männer in Trainingsanzügen auf ihn: sein Bruder Ozan, sein Neffe Oguzhan und sein Sohn Altay.
Es ist ihr Ritual. Nach dem Frühstück werden alle vier Männer ausschwärmen. Sein Neffe Oguzhan, 17, leitet heute ein C-Jugendspiel, sein Sohn Altay, 22, auch, und sein Bruder Ozan, 50, pfeift die U13 des SV Sandhausen. Ein normaler Samstag bei den Koçaks. „Wer soll es denn sonst machen?“, fragt Hasan-Fazlı Koçak.
In ganz Deutschland werden jedes Wochenende Amateurspiele wegen Schiedsrichtermangels abgesagt. Der Deutsche FußballBund (DFB) gibt an, die Zahl der Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter sei im Amateurbereich bundesweit extrem rückläufig. Alleine in den fünf Jahren zwischen den Saisons 2016/17 und 2021/22 sank die Zahl der aktiven Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter von 59.000 auf 50.000. Auch in Baden-Württemberg kämpfen die Verbände mit dem Rückgang: Der Württembergische Fußballverband verlor zwischen 2017 und 2023 mehr als 500 Schiedsrichter, in Südbaden ist die Lage noch angespannter.
Eine interne Umfrage des DFB zeigte, dass viele keine Lust mehr auf den Job hätten, weil es ihnen keinen Spaß macht, beleidigt, beschimpft oder manchmal sogar gewalttätig angegriffen zu werden. Der Württembergische Fußball-Verband führt den Rückgang vor allem auf ein „geändertes Freizeitverhalten“zurück.
Die Heilbronner Schiri-Familie Koçak hingegen fährt von Sportplatz zu Sportplatz, um zu pfeifen. Jeder auf die seine Art. Oghuzan, der Jüngste und Gescheiteste: pfeilschnelle Entscheidungen bei höchster Regeltreue. Altay: ruhig in der Art, aggressiv in der Entscheidung. Ozan: auch mal energisch, fast wütend im Ton. Hasan-Fazlı, der Familienälteste: sicher der gemächlichste, aber mit klaren Ansagen.
Zwei Stunden nach dem Frühstück steht Hasan-Fazlı Koçak am Seitenrand eines Fußballplatzes in Heilbronn und beobachtet das Spiel eines neuen Kollegen. Er pfeift nämlich nicht nur selbst Spiele, er gibt sein Wissen auch an den Nachwuchs weiter — an seinem einzigen arbeitsfreien Tag in der Woche.
„Als Schiedsrichter musst du das Spiel nach zehn Minuten verstanden haben“, sagt er hinter der Bande. Mit welcher Taktik spielen die Mannschaften? Welche Spieler meckern, wer pflügt, wer ist ruhig? Dann könne man selbstbewusst und respektvoll auf die Spieler eingehen. „Eine Diva muss auch mal betätschelt werden“, sagt er. Dann säuselt Koçak manchmal: „Sie haben recht, ich habe das Foul gesehen.“Um in der nächsten Aktion klar zu sagen, wenn es zu theatralisch wird. Wichtig sei: So wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Klar aufzutreten und doch fast unsichtbar zu sein.
Seine erste Partie pfiff HasanFazlı Koçak im November 1995. Sein Vater war damals Vorsitzender von Türkspor Heilbronn und musste jede Woche Strafe zahlen, weil der Verein keine Schiedsrichter stellte. Also überzeugte er seine beiden Söhne, Hasan-Fazlı und Altay, sich zum Schiri ausbilden zu lassen. Hasan-Fazlı Koçak kam das gerade recht: „Ich war eh nicht gerade das größte Talent am Ball.“
Seit Beginn seiner Schiri-Karriere kann sich Hasan-Fazlı Koçak an bloß ein Spiel erinnern, das er abbrechen musste. Da habe ihm ein Spieler den Block aus der Hand geschlagen. Anfeindungen, auch wegen seines Migrationshintergrundes, erlebe er nur selten. In den letzten zehn Jahren sei er vielleicht zwei- oder dreimal beleidigt worden. Einmal habe ein Zuschauer gesagt: „Geh dahin zurück, wo du herkommst.“Da habe er geantwortet: „Mach ich, nach Heilbronn.“Koçak weiß mit seinen 30 Jahren Erfahrung, wie er die Spieler und Zuschauer behandeln muss. „Ich habe mein Gehör so trainiert, dass ich nur noch das höre, was ich hören will“, sagt er. All die Standardsprüche – „Der hat schon Gelb“, „Immer der Siebener“– ignoriert er gekonnt.
Inzwischen hat er mehr als 2500 Spiele gepfiffen, und es werden Woche für Woche mehr. Ist es auch ein Sammeltick? Die Jagd nach einem Rekord? Koçak sieht die Sache nüchtern, erzählt von einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, von der fast schon familiären Bindung zu seinen 19 pfeifenden Kollegen im Bezirk, vom Spaß am Fußball und der Verantwortung, die Geschicke eines Spiels zu leiten. Im Seitenfach seines Mercedes liegt immer eine Notfalltasche mit einer Gelben und einer Roten Karte sowie einer Pfeife. Man kann ja nie wissen.
Hasan-Fazlı Koçak ist es ein Anliegen, dass jedes Spiel von einem qualifizierten Schiedsrichter geleitet wird. Er sagt: „Wenn in einem Sack Äpfel nur ein Apfel faul ist, dann dauert es nicht lange, bis auch die anderen Äpfel faulen.“
Genau das versucht er selbst vorzuleben. Am Abend, bei dem A-Jugendspiel, steht es zur Halbzeit 0:4, es gab keine einzige strittige Situation. In der Pause sagt er: „In solchen Spielen trainiere ich die Basics.“Er versuche, jede Begegnung glaubhaft und mit dem nötigen Respekt anzugehen, damit sich keine kleinen Fehler einschleifen.
Zurück auf dem Feld wirkt es, als ob das Spiel von unsichtbaren Händen geleitet wird. Es fällt kaum auf, dass ein Schiedsrichter auf dem Feld ist, es gibt keine Diskussionen und keine hitzigen Aktionen. Doch wenn man genau hinhört, merkt man, dass HasanFazlı Koçak jede Aufruhr im Keim erstickt. Mit gezielten Handbewegungen, mit kurzen Ausrufen und klaren Pfiffen. Die zweite Halbzeit führt er fehlerfrei zu Ende, nach 90 Minuten steht es 0:8. Er schüttelt ein paar Hände und läuft vom Platz. Jetzt sind seine Augen doch ziemlich klein und die Stimme belegt.
Heute Nacht wird Hasan-Fazlı Koçak ein paar Stunden schlafen. Morgen, am Sonntag, steht das nächste Spiel an. Am Montag das übernächste. Und am Mittwoch geht es weiter.