Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Keine Trecker am roten Teppich
Viel Protest bei der 74. Berlinale – Der Wettbewerb zeigt sich bislang robust
- Proteste auf der Berlinale? Gehen immer. Ukraine, Israel, Palästina, gegen rechts, MeToo. Und gegen Uber. Berliner Taxifahrer demonstrieren gegen das Unternehmen, das einer der Hauptsponsoren des Filmfestivals ist. Der neue Konkurrent verzerre den Wettbewerb, sagen die alteingesessenen Fahrer. Tatsächlich ist die Vorstellung, dass die Stars in einer Uber-Limousine am roten Teppich vorrollen, lustig. Andererseits ist man ja schon froh, wenn dort keine Trecker auffahren.
Mehr als die Hälfte seiner 20 Filme hat der Wettbewerb der 74. Auflage der Berlinale absolviert, der letzte, den Carlo Chatrian und Mariëtte Rissenbeek kuratiert haben. Welchen Eindruck werden sie hinterlassen? In ihren ersten der wenigen Jahre seit 2019 haben sie sich kaum profilieren können, zu sehr hat ihnen Corona dazwischengefunkt. Vielleicht ist der Jahrgang 2024 der erste, den sie tatsächlich frei planen konnten – und zunächst lässt sich die Sache ordentlich an.
Gelaufen sind die beiden deutschen Beiträge; weitere mit deutscher Co-Beteiligung folgen allerdings noch. Verlässlich zeigt sich Andreas Dresen mit „In Liebe, Eure Hilde“: die Biografie der Widerstandskämpferin gegen die Nazis, Hilde Coppi, deren Leben 1943 unter dem Fallbeil in Plötzensee endete. In Westdeutschland ist sie wenig bekannt, gehörte sie doch zur kommunistischen Gruppe „Rote Kapelle“. In der DDR hoch geehrt, rangierte sie im Westen stets hinter dem konservativen Widerstand Stauffenbergs.
Dresen verfilmt die letzten Monate der Frau, die im Gefängnis ein Kind zur Welt bringt, den heute 81jährigen Historiker Hans Coppi. In der Hauptrolle eine beeindruckende Liv Lisa Fries, die ihrer Figur durchaus moderne Züge verleiht; zudem verzichtet Dresen bewusst auf all zu typische Hinweise auf die Nazizeit. So sind kaum Hakenkreuze zu sehen, und die Gestapo- und Justiz-Schergen sind keine schnarrenden Schurken, sondern ganz normale Männer. „In Liebe, Eure Hilde“ist der Film, in den das Festival AfD-Politiker hätte einladen sollen.
Wenig überzeugend im Gegensatz zum Dresen-Film: In „Sterben“erzählt Matthias Glasner in überlangen drei Stunden die Geschichte einer hoch dysfunktionalen Familie, eine prätentiöse Geschichte, die häufig in unfreiwilligen Humor abkippt und zwischen Drama und Groteske schwankt – etwa wenn Ronald Zehrfeld einen Zahnarzt spielt, der sich im Suff an einer BarTheke einen Zahn beschädigt (!) und diesen dann im Hinterzimmer mit einer Rohrzange und mit Hilfe seiner betrunkenen Liebschaft selbst zieht. Eigentlich will der Film aber gar keine Farce sein – doch Glasner trifft im Ton ständig daneben.
Eine ganz andere Familiengeschichte: „Mein Lieblingskuchen“von Maryam Moghaddam und Behtasch Sanaeeha aus Iran. Eigentlich eine ganz simple Geschichte: Eine ältere Witwe sucht noch einmal die große Liebe. Ein Zwei-PersonenStück, schlicht erzählt, sogar betulich.
Seine Brisanz erschließt sich, wenn man weiß, was es in Iran bedeutet, eine Frau zu zeigen, die zuhause keinen Hijab trägt. Die Alkohol trinkt und tanzt. Die auf der Straße einen Sittenwächter zurechtweist, der eine junge Frau verhaftet. Solche Details haben dazu geführt, dass das Regie-Duo nicht ausreisen darf und auf seinen Prozess wartet.
Groteskes Kino bietet der Wettbewerb auch an anderer Stelle. „L’empire“des Franzosen Bruno Dumont erdet eine Weltraum-Saga mit „Star-Wars“-Anklängen (Lichtschwerter kommen zum Einsatz!) in einem Fischerkaff in Frankreich, am Ende verschlingt ein Schwarzes Loch alle Raumschiffe. Ausflüge in den Body Horror à la David Cronenberg bietet „A Different Man“, der einzige US-Film im Wettbewerb – auch in diesem Jahr haben Chatrian und Rissenbeek es wieder nicht geschafft, großes amerikanisches Kino nach Berlin zu holen.
Immerhin: „La Cocina“spielt in New York – der mexikanische Regisseur Alonso Ruizpalacios blickt hinter die Kulissen eines großen Restaurants am Time Square. In der Küche schuften, unter miserablen Bedingungen, fast nur illegale Ausländer. Ruizpalacios zeigt das in Schwarzweiß in furiosen Montagen, wenn an Herd, Ofen und Pass Fett und Schweiß in einander fließen und es nur furchtbar still wird, wenn der gottgleiche Chef seine Runde dreht.
In „Dahomey“, der ersten Doku in der Hauptreihe, begleitet die französisch-senegalesische Regisseurin Mati Diop 26 Kunstwerke, die Frankreich der früheren Kolonie Benin zurückgibt. Interessant wird es, wenn sie Diskussionen an einer Universität zeigt, wie das heutige Land mit den verlorenen Kultobjekten umgehen soll – und sich eine erstaunliche Pluralität der Meinungen auftut.
Der Wettbewerb der Berlinale macht bis jetzt einen, mit Ausrutschern, guten Eindruck. Vielleicht wird man die Chatrian/Rissenbeek-Jahre mit etwas Abstand doch als gelungene Strecke bezeichnen – das Wort Ära wäre allerdings zu viel des Guten.