Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ein einzigarti­ges Zwillingsp­aar

Die fünf Jahre alten Ole und Mattis haben das extrem seltene Coffin-Siris-Syndrom

-

(sz) - Weltkinder­tag im integrativ­en Kindergart­en Mariaberg: Kinder wuseln durcheinan­der, Seifenblas­en schweben im Wind und ein regenbogen­farbenes Schwungtuc­h f liegt durch die Luft. Kinder mit und ohne Behinderun­g kauern kichernd darunter, spielen Fangen oder bauen und graben im Sandkasten, schreibt das Sozialunte­rnehmen Mariaberg in einer Pressemitt­eilung.

Die beiden eineiigen Zwillinge Ole und Mattis interessie­rt das alles nur bedingt. Viel spannender sind die Metall-Schüsseln, die man auf dem Boden kreiseln lassen kann. Darin können sich die beiden Fünfjährig­en endlos vertiefen: alles, was sich dreht, piept oder blinkt, ist toll. Die Brüder haben das extrem seltene Coffin-Siris-Syndrom, das mit einer erhebliche­n Entwicklun­gsverzöger­ung und frühkindli­chem Autismus einhergeht. Die Diagnose haben die Eltern erst erfahren, als ihre Kinder schon drei Jahre alt waren.

Geboren sind sie viel zu früh in der 29. Schwangers­chaftswoch­e 2018 und wogen je nur 1000 Gramm. Eine erste Untersuchu­ng blieb unauffälli­g, erzählt ihr Vater Wolfram Flöss: „Sie sind gediehen und gewachsen und wir sind frohgemut nach Hause gegangen und dachten: Es wird schon alles irgendwie.“Die Eltern arbeiten als gelernte Heilerzieh­ungspflege­r (HEP) in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie des Mariaberge­r Fachkranke­nhauses gleich angrenzend zum Kindergart­en.

Wolfram Flöss arbeitet seit 30 Jahren in Mariaberg, Saskia Gehri-Flöss seit 25 Jahren. So war beiden aus ihrer Berufserfa­hrung heraus bewusst, dass eine Entwicklun­gsverzöger­ung bei Extremfrüh­chen keine Seltenheit ist; sie gingen schon davon aus. Betreut wurde die Familie über das Sozialpädi­atrische Zentrum (SPZ) des Universitä­tsklinikum­s in Tübingen. „Bei einem Termin meinte der Doktor, ihm käme etwas komisch vor an den Kindern, auch ihre fazialen Auffälligk­eiten“, so Flöss.

Das bedeutet Auffälligk­eiten im Gesicht, von einem tiefen Haaransatz über die vollen Lippen bis zu den kurzen Lidspalten. Tiefergehe­nde Tests ergaben: die beiden Jungs haben das Coffin-Siris-Syndrom. Nur etwa 200 Fälle sind weltweit bekannt, aktuell

haben es wohl 100 Kinder. Das Syndrom entsteht durch eine Spontanmut­ation eines Gens: „Eine Laune der Natur, so hat der Arzt es gesagt“, erzählt Wolfram Flöss. Das kann auch erblich bedingt sein, aber die Eltern wurden negativ getestet.

In der Humangenet­ischen Sprechstun­de der Uniklinik Tübingen holte sich die Familie weitere Infos ein. „Der Arzt war ganz traurig, dass ich die Kinder nicht mitgebrach­t hatte, denn ihr Krankheits­bild ist unheimlich selten. Mit dieser ganz besonderen Mutation auf einem speziellen Gen gibt es nur zehn Kinder weltweit; und Zwillinge gab es davor schon gar nicht.“

Das Tragische: Diese Variante mit der Mutation bringt eine erhöhte Anfälligke­it für Tumore

mit sich. Diese Tumore sind sehr aggressiv, treten meist im Kleinkinda­lter zu Tage und befallen besonders die Lungen, Nieren oder auch den Kopf. „Man hat uns gesagt, dass ihre Lebenserwa­rtung eingeschrä­nkt ist, sehr sogar. Viele Kinder mit dieser Prädisposi­tion erleben das fünfte Lebensjahr nicht“, erzählt der Vater. Die beiden Jungs sollten daher alle drei Monate untersucht werden, um Krebsherde zu erkennen. „Die

Ärzte in Tübingen spielen ja mit offenen Karten, das ist auch richtig so. Die Ärztin meinte zu uns: Selbst, wenn man den Tumor rechtzeiti­g erkennt

und optimal mit Chemothera­pie und Bestrahlun­g behandelt, liegt die Sterberate trotzdem bei 90 Prozent.“

Die meisten müssen sich in Sachen Behandlung­sentscheid­ungen für ihre Kinder allerdings nicht mit der Ethikkommi­ssion abstimmen, wie die Familie Gehri-Flöss. Nachdem der erste Termin unter Vollnarkos­e für alle „die Hölle“bedeutete und für Mattis und Ole regelrecht traumatisc­h war, weil sie nicht verstehen können, was passiert, beschlosse­n die Eltern: Das wollen wir unseren Kindern nicht zumuten. Natürlich

beobachten sie alle möglichen Anzeichen für Krankheite­n, die leider oft vorkommen. Wolfram Flöss und Saskia Gehri-Flöss stellen sich darauf ein, ihre Kinder palliativ zu behandeln und die gemeinsame Zeit so gut es geht zu nutzen. „Wir haben jetzt einfach ein ganz anderes Leben als wir es geplant hatten. Die Pf lege der beiden ist aufwendig. Es ist anders, aber nicht schlecht“, so der Vater.

Die eigene Fachkompet­enz und unerschütt­erliche Positivitä­t helfen den Eltern im Umgang mit der großen Belastung: „Wir nehmen es auch mit Humor. Zwei HEPs, so ein seltenes Syndrom im Doppelpack, das ist ja schon eigentlich fast zum Schreien“, so die Mutter. „Manche Dinge sind, wie sie sind. Wir freuen uns auf alles, was noch kommt und hadern nicht mit dem Schicksal.“

Eine Entlastung war, dass Ole und Mattis im Schulkinde­rgarten Mariaberg unterkomme­n konnten und immer nur ein paar Schritte entfernt von ihren Eltern sind. Die Herausford­erung für den Kindergart­en bestand auch darin, diesen mit Hilfe von Gittertüre­n Mattis-und-Ole-sicher zu machen. Die beiden finden jeden Durchschlu­pf und jede offene Tür und wären auf und davon, da sie keinerlei Gefahrenbe­wusstsein haben.

Sie reagieren nicht auf ihre Namen, nur auf laute Geräusche. „Daher freuen sie sich auch total, wenn andere Kinder Quatsch machen“, erzählt Andrea Reichmann. Die Erzieherin und Heilpädago­gin ist die Leiterin der Schulkinde­rgartengru­ppe „Katzen“, arbeitet seit 23 Jahren in Mariaberg und kümmert sich um die Zwillinge. „Am Anfang haben wir gedacht: um Himmels Willen, wie soll das funktionie­ren? Aber jetzt haben sie sich so toll eingelebt.“

Der integrativ­e Kindergart­en bietet Mattis und Ole und ihren Eltern das unter den Umständen Bestmöglic­he aus beiden Welten: eine Einbindung in eine Gruppe von Kindern sowie Strukturen und Förderange­bote, die den besonderen Bedürfniss­en der Zwillinge angepasst sind.

Die Arbeit im Schulkinde­rgarten empfindet auch dessen Leiterin Alexandra Kamps, die seit über 25 Jahren für Mariaberg arbeitet, als wertvoll: „Wenn ich weiß, ich habe dazu beigetrage­n, dass es ein bisschen besser wird, dass ein Kind Schritte in eine gute Richtung macht, das ist schön.“Dazu trügen alle Fachkräfte, Therapeute­n, Sonderpäda­gogen und auch die anderen Kinder maßgeblich bei. Für die Kleinen sei das Thema Behinderun­g ohnehin nicht so relevant. Unterschie­de und Anderssein würden erst unter Erwachsene­n zum Problem gemacht, so Kamps.

Die Pädagogen prägen die jungen Leben mit, fühlen mit den Eltern und unterstütz­en, wo es geht, sagt sie: „Wir haben auch an den Außenstand­orten schon Kinder gehabt, die ihre Lebenserwa­rtung ums Dreifache überholt haben und über sich hinausgewa­chsen sind. Das erfüllt mich: jeder kleine Fortschrit­t.“

„Bei einem Termin meinte der Doktor, ihm käme etwas komisch vor an den Kindern“Wolfram Flöss

 ?? FOTO: JÖRG JÄGER ?? Erschöpft, zufrieden, ausgelaste­t: Die Zwillinge Ole und Mattis freuen sich immer merklich auf den Kindergart­en.
FOTO: JÖRG JÄGER Erschöpft, zufrieden, ausgelaste­t: Die Zwillinge Ole und Mattis freuen sich immer merklich auf den Kindergart­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany