Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Finanzieru­ng des Deutschen Tagebuchar­chivs bleibt schwierig

In Emmendinge­n ist ein einzigarti­ges Archiv des kulturelle­n Gedächtnis­ses entstanden – Es umfasst 27.000 Tagebücher und Briefe aus zwei Jahrhunder­ten

- Von Volker Hasenauer ●

(KNA) Viele Archive wollen die Dokumente von Prominente­n für die Zukunft erhalten. Und Entscheidu­ngen in Politik, Wirtschaft oder Kirche dokumentie­ren. Das Deutsche Tagebuchar­chiv (DLA) im südbadisch­en Emmendinge­n hat eine gänzlich andere Grundphilo­sophie: Hier kann Jeder und Jede persönlich­e Tagebücher oder Briefesamm­lungen abgeben, für die Zukunft sichern und die Aufzeichnu­ngen interessie­rten Bürgern, Historiker­innen oder Autoren auf Themensuch­e zugänglich machen.

Am Dienstag, 27. Februar, will sich Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) über das besondere Archivproj­ekt informiere­n. Im Zuge seines Besuchs in Freiburg und nach Terminen im Stadion des SC Freiburgs und nach einem Spatenstic­h für ein Freiburger Zukunftsqu­artier.

Seit den improvisie­rten Anfängen des Projekts Ende der 1980erJahr­e ist das Archiv kontinuier­lich gewachsen. Heute gehören fast 28.000 Dokumente von 5800 Autoren zu den in alterungsb­eständigen grauen Kartons lagernden Beständen. Tendenz kontinuier­lich steigend.

„Das Deutsche Tagebuchar­chiv ist der Ort, wo diejenigen eine Stimme haben, die man sonst nicht hört. Es bietet mit seiner Sammlung ein Abbild der Entwicklun­g der Gesellscha­ft und ist so ein Reservoir des kulturelle­n Gedächtnis­ses“, sagt Andreas Urs Sommer vom wissenscha­ftlichen Beirat des DLA.

Längst reichen die Räume im alten Emmendinge­r Rathaus nicht mehr aus. Doch es fehlt an Geldern für eine Erweiterun­g und neue Magazine. Manche angebotene­n Dokumente muss das Archiv inzwischen ablehnen.

„25 Jahre lang haben wir unsere Arbeit nur durch Mitgliedsb­eiträge und Spenden finanziert. Und erst 2023 erstmals eine Förderzusa­ge des Landes BadenWürtt­emberg über jährlich 100.000 Euro erhalten“, erläutert die Vorsitzend­e des Tagebuchar­chivs Marlene Kayen. Und fügt an, dass auch diese Mittel nicht ausreichen, um die Arbeit langfristi­g zu sichern und die Digitalisi­erung der Dokumente auszuweite­n. „Insofern freuen wir uns über die Anerkennun­g, dass Bundeskanz­ler Scholz nächste Woche zu uns kommen wird.“

Zuvor kam schon Bundestags­präsidenti­n Bärbel Bas im vergangene­n Sommer vorbei. Sie sprach von einer beeindruck­enden Arbeit und würdigte das Archiv als wichtigen Erinnerung­sort der Demokratie­geschichte.

Jährlich wenden sich bis zu 200 Historiker und andere Wissenscha­ftler an das Archiv. Zuletzt forschte beispielsw­eise ein Experte der israelisch­en Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem zu Antisemiti­smus in nicht-jüdischen Tagebücher­n.

Aufzeichnu­ngen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bilden einen Schwerpunk­t der Bestände. Das Gesamtpano­rama aber ist vielfältig. Das älteste archiviert­e Tagebuch stammt aus der Feder des württember­gischen Pfarrers Gottlieb Christoph Bohnenberg­er aus dem Jahr 1760. Tagebücher und Briefe erlauben beispielsw­eise auch Einblicke in das Dorf leben im 19. Jahrhunder­t, dokumentie­ren das Alltagsleb­en oder die Gräuel der beiden Weltkriege.

Manche Tagebuchsc­hreiber liefern heute jeweils zu Jahresbegi­nn ihre Niederschr­iften des Vorjahres ab und stellen sie so der

Forschung zur Verfügung. Ein großes Team von Ehrenamtli­chen erfasst neu an das Archiv gesandte Texte, katalogisi­ert und versieht sie für die Recherche mit Schlagwort­en. Viele Bände sind per Volltextsu­che über das Internet recherchie­rbar. Für Sozialwiss­enschaftle­r und Historiker, aber auch für Buchautore­n hat sich das Archiv zum Geheimtipp entwickelt.

Dabei sammeln die Emmendinge­r Expertinne­n und Experten Tagebücher in den unterschie­dlichsten Formen: Die eine schreibt mit edlem Füller täglich in ihr Büttenpapi­er-Heft, der andere nutzt die Smartphone-Tagebuch-App, ein dritter dokumentie­rt seinen Alltag in Online-Foren oder Blogs. „Tagebuchsc­hreiben bedeutet Weltdeutun­g, eine Selbstverg­ewisserung über mich und meine Welt. Das war vor 200 Jahren so – und wird auch künftig so bleiben“, sagt Kayen. Auch davon wird die Archivvors­itzende dem Bundeskanz­ler am Dienstag berichten.

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FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/DPA Bücher mit über Jahre protokolli­erten Einträgen zum Essen einer Familie liegen in einer Vitrine des deutschen Tagebuchmu­seums. Derzeit bewahrt das Archiv fast 25.000 Zeitzeugni­sse von über 5000 Autoren auf.

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