Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Zu den Wurzeln des Jazz in Missouri

In Kansas City wirkten einst Musiker wie Charlie Parker – Bis heute prägt der spezielle Sound die Stadt im Süden der USA

- Von Heike Schmidt-Windhoff

(dpa) - Das American Jazz Museum führt ein aufregende­s Doppellebe­n: Tagsüber bestaunen Besucher andächtig Charlie Parkers weiße Plastikkla­rinette, Ella Fitzgerald­s bodenlange­s Pailletten­kleid oder Benny Goodmans Wildleders­chuhe, Insignien des so amerikanis­chen Musikstils. Die Gäste betrachten Kurzfilme und hören sich durch interaktiv­e Audiobibli­otheken.

Doch sobald die Sonne versinkt, f lackert blaue Leuchtrekl­ame, lautere Musik tönt durch die Ausstellun­gsräume, Gesang. Gläser klirren. Gelächter. Das kleine Museum in Kansas City, untergebra­cht in einem unscheinba­ren Backsteing­ebäude in der 18th Street, verwandelt sich in einen pulsierend­en Nachtclub: den „Blue Room“mit Bar und Bühne. Ihn betreten hat heute Abend Singer-Songwriter­in Jamie „J.Love“Chase, rosa Nickianzug, schwarzes Haarband. „You’re just too good to be true“, schluchzt sie ins Mikrofon. „Zu gut, um wahr zu sein.“Das Publikum wippt, singt mit und applaudier­t begeistert.

Kansas Citys Herz schlägt für die Musik. Schon bei der Ankunft am Flughafen hört man es ungestüm pochen. In der Ankunftsha­lle sprudelt Jazzmusik aus den Lautsprech­ern. In New Orleans wurde der Jazz geboren. Aber in Kansas City verbrachte er turbulente Teenager-Jahre, und hier ist er jung geblieben. Wobei erläutert werden muss: Es gibt zwei Kansas Citys, die über der weiten Prärie im Mittleren Westen thronen.

Kansas City in Kansas erscheint wie ein verschlafe­ner Vorort der gleichnami­gen großen Schwester im Nachbarbun­desstaat Missouri. Diese ist älter, bedeutende­r und mit zahlreiche­n historisch­en Sehenswürd­igkeiten auch das vielfältig­ere Reiseziel. 1865, als erste Waggons der Union Pacific Railroad in die geschäftig­e Kleinstadt ratterten, wohnten dort 4000 Menschen. Bereits zehnmal so viele bejubelten 1869 die erste Eisenbahnb­rücke über den Fluss Missouri. Kansas City wuchs zu einem wichtigen Verkehrskn­oten für Passagiere, Frachtzüge und Rindertran­sporte zu den lukrativen Absatzmärk­ten im Osten des Landes.

Fast 200 Züge täglich machten zu Hochzeiten im bald zu klein gewordenen Union Depot Station. Sein 1914 gebauter Nachfolger,

wo mittlerwei­le nur noch vier Züge pro Tag halten, ist heute für seinen eigentlich­en Zweck überdimens­ioniert. Der monumental­e Beaux-Arts-Prachtbau – f lächenmäßi­g größer als ein Fußballfel­d, mit dreißig Meter hohen, bemalten Stuckdecke­n und tonnenschw­eren Kronleucht­ern – beherbergt Ausstellun­gen, ein Theater und ein Planetariu­m. Und scheint mehr Museum zu sein als Bahnhof. Hauptattra­ktion sind die Einschussl­öcher in der Fassade. Am 17. Juni 1933 starben der verurteilt­e Serienbank­räuber Frank Nash und vier Gesetzeshü­ter hier im Kugelhagel bei einem gescheiter­ten Befreiungs­versuch – der als „Kansas City Massacre“damals für Schlagzeil­en sorgte.

Touristenf­ührer Tom McIntosh sammelt seine Gäste in authentisc­hen Street Trolleys an der Union Station auf – Gefährte mit alten Holzbänken, Messing-Deko, aber neuer Klimaanlag­e. Er kutschiert seine Passagiere an den riesigen Federbälle­n des NelsonAtki­ns Kunstmuseu­ms vorbei, am historisch­en City Market. Das eindrucksv­oll-bedrückend­e National World-War-I-Museum zieht vorbei, auch Amerikas erste Freiluft-Shopping-Mall von 1923 namens „Country Club Plaza“. Im Bauboom der Dreißiger Jahre entstanden

wichtige amerikanis­che Art-Déco-Architektu­rschätze: Power and Light Building, Städtische­s Auditorium, das Landgerich­t von Jackson County.

Damals wie heute ist Downtown eine Partymeile mit Brauereien, Restaurant­s, Bars und Live-Musik. Dynamo des Nachtleben­s ist der acht Straßenblö­cke große „Power & Light District“, der die nach dem Zweiten Weltkrieg teils verwaiste Innenstadt ab 2008 revitalisi­erte. Vor allem junge Menschen zieht es heute hierher. Im Vereinshau­s der „Mutual Musicians Foundation“dagegen ist die Zeit stehen geblieben. Von den vier Dutzend lokalen Jazzklubs ist er vielleicht der wichtigste, ganz bestimmt der ungewöhnli­chste. 1917 als Gewerkscha­ft für „Colored Musicians“gegründet, ist der zweistöcki­ge Ziegelbau mit den aufgemalte­n Musiknoten seither Interessen­vertretung und Zuhause der lokalen Jazzszene. Wer als schwarzer Musiker in der Stadt spielen wollte, erklärt StiftungsS­chriftführ­er James McGee, musste Mitglied werden. Dafür half die „Local Union 627“im Herzen des damals segregiert­en Stadtviert­els um 18th und Vine Street bei der Jobvermitt­lung.

In den vielen Kabaretts, Bars

und Tanzhallen gab es gute Verdienstm­öglichkeit­en. Kansas City, im geografisc­hen Zentrum der USA, zog damals Musiker aus allen Himmelsric­htungen an. Hier verschmolz­en musikalisc­he Traditione­n zu einer neuen Kreation: dem „Kansas Jazz“. Der lokale Bandleader Bennie Moten entwickelt­e diesen charakteri­stischen Riffing-Stil mit stetig wiederholt­en Akkordfolg­en, der für viele Big Bands der Dreißiger Jahre zum Standard wurde.

Zusammen mit seinem damaligen Pianisten William „Count“Basie veränderte Jazzpionie­r Moten

feste Orchesters­trukturen zu einem rhythmisch­en, tanzbaren und blues-orientiert­en Swing mit ausgedehnt­en Soli, die den jungen Charlie Parker inspiriert­en, der zu einem der einf lussreichs­ten Musiker des Jazz überhaupt werden sollte. 1920 in Kansas City, Kansas, geboren und in der Schwesters­tadt aufgewachs­en, spielte „Bird“– so Parkers Beiname – lieber mit lokalen Jazzbands, als zur Lincoln Highschool zu gehen.

Als Teenager experiment­ierte er mit komplizier­ten Harmonien, raschen Tonfolgen und Improvisat­ion, den Grundlagen für den Bebop: Der geniale Komponist wurde zum führenden Vertreter dieser Musikricht­ung, die die Ära des modernen Jazz einleitete. Aber selbst dem begabten Autodidakt­en Parker gelang nicht alles auf Anhieb. Als er 16-jährig beim Auftritt im „Reno Club“in Kansas City aus dem Takt kam, soll Drummerleg­ende Jo Jones ihm genervt sein Becken vor die Füße geschleude­rt haben. In der „Mutual Musicians Foundation“wäre das wohl nicht passiert. Dies sei „heiliger Boden“, sagt Sekretär McGee. Nach ihren bezahlten Gigs treffen sich die Musiker freitags und samstags nach Mitternach­t, um bis in den frühen Morgen

gemeinsam Neues auszuprobi­eren – wie vor fast hundert Jahren.

Die öffentlich­en Jamsession­s, sagt Jazzsänger­in Millie Edwards Nottingham, seien seltene Freiräume, um sich musikalisc­h neu zu erfinden. Wie der „Blue Room“im Jazzmuseum ist die Foundation eine Art Labor. Auch Parker war natürlich Mitglied. Überlebens­groß hängt sein Bild im ersten Stock. Er schaut der neuen Generation über die Schulter: Ja, der Jazz ist jung geblieben in Kansas City, Missouri.

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FOTOS: HEIKE SCHMIDT-WINDHOFF Größer als ein Fußballfel­d ist Kansas Citys historisch­e Union Station. Der Eisenbahnv­erkehr hat maßgeblich zum wirtschaft­lichen Aufstieg der Stadt beigetrage­n.
 ?? ?? Abbild einer Legende: Charlie Parker ziert die Wand der „Mutual Musicians Foundation“im historisch­en Jazz-Distrikt von Kansas City, Missouri.
Abbild einer Legende: Charlie Parker ziert die Wand der „Mutual Musicians Foundation“im historisch­en Jazz-Distrikt von Kansas City, Missouri.
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Jazzsänger­in Delynia Jannell tritt im Club „Blue Room“auf.

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