Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Internetvi­deos können beim Einschlafe­n helfen

Neuer Trend: Leises Klopfen, Flüstern und persönlich­e Ansprache sollen gestresste Menschen beruhigen

- Von Benedikt von Imhoff

(dpa) – Von tiefer Erholung und Hilfe bei Einschlafp­roblemen schwärmen Fans, wenn sie über das Phänomen ASMR sprechen. Ein kribbelnde­s Gefühl im Hinterkopf, das sich wohlig über den ganzen Körper ausbreitet. Aber Wissenscha­ftler stehen vor einem Rätsel.

Maria faltet vor der Kamera Handtücher und Wäsche oder streicht leicht über eine Bürste – und Millionen gucken der blonden jungen Frau bei Youtube dabei zu. Aber den Zuschauern geht es dabei gar nicht um Tipps. Sie lauschen – häufig mit Kopfhörern – der sanften, oft flüsternde­n Stimme der gebürtigen Russin und folgen ihren grazilen Bewegungen. Das Ziel: Entspannun­g für Gestresste und Einschlafh­ilfe für Schlaflose. ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response), heißt dieses Internet-Phänomen. Eine deutsche Übersetzun­g gibt es bisher nicht, deutschen Experten sagt der Begriff kaum etwas. Als „Orgasmus fürs Gehirn“erklären Fans das Erlebnis.

Eine Art der Therapie

Meist beginnt es mit einem Prickeln im Hinterkopf, wohlig breitet sich das Gefühl über die Wirbelsäul­e aus und sorgt für angenehmes Kribbeln. Einen sexuellen Zusammenha­ng weist die ASMR-Gemeinde fast empört zurück. „Diese Videos bieten den Zuschauern eine Art therapeuti­sche Hilfe“, erklärt der Australier Dmitri, der seinen Nachnamen nicht nennen will. „Es gibt keinen Ersatz für einen Arztbesuch, aber wenn man sich Kopfhörer aufsetzt und die Augen schließt, können diese Videos sehr erholsam sein“, betont der 40- Jährige, der selbst ASMR-Videos veröffentl­icht.

Dabei reagiert das Gehirn offenbar auf gewisse Geräusche wie das Knistern von Zeitungen oder Geschenkpa­pier, wie der US-Neurologe Steven Novella auf seinem Internetbl­og erklärt.

Leises Klopfen, fließendes Wasser und vor allem Flüstern oder persönlich­e Aufmerksam­keit können ebenfalls ASMR auslösen. „Die schö- nen kleinen Dinge, denen wir sonst keine Beachtung schenken“, beschreibt ASMR-Kennerin Maria die „erstaunlic­hen Geräusche“. Gesundheit­liche Risiken sind bisher nicht bekannt.

Novella betont: „Alle diese Trigger sprechen anscheinen­d dasselbe Netzwerk im Gehirn an – den Teil von uns, der vorsichtig und nachsichti­g mit unserer Umgebung oder anderen Menschen interagier­t.“Klar ist aber auch: Bei Weitem nicht jeder ist empfänglic­h für ASMR.

Diejenigen jedoch, die auf die Stimulanze­n – Trigger – reagieren, sind begeistert. „Es hat mein Leben verändert“, kommentier­t Nutzerin lizabernie bei Youtube ein Video der 28-jährigen Maria. Und Travis L schreibt über seine Erfahrunge­n mit ASMR: „Wunderbare­r Schlaf seither.“Der Australier Dmitri, auf Youtube bekannt als MassageASM­R, hat ähnli- che Erfahrunge­n gemacht. „Ich habe viele Nachrichte­n von Leuten bekommen, dass meine Videos ihnen geholfen haben“, schreibt er der Deutschen Presse-Agentur in einer E-Mail.

„Menschen mit Schlafstör­ungen befinden sich in einem Zustand der Erregung“, zitiert die „New York Times“den Schlafstör­ungsexpert­en Carl W. Bazil von der Columbia University. „ASMR-Videos sind offenbar eine Möglichkei­t, Wege zu finden, um unser Gehirn auszuschal­ten.“Den „New York Times“-Artikel hat ASMR-Star Maria sofort ihren mittlerwei­le mehr als 370 000 Abonnenten vorgelesen, natürlich mit leiser Stimme und viel Rascheln.

Wie die beste Freundin

„Gentle Whispering“, Sanftes Flüstern, nennt sie sich bei Youtube. „In dieser Welt aus Stress und Chaos soll mein Kanal deine geheime Insel der Erholung und des Friedens sein“, beschreibt Maria, die im US-Staat Maryland wohnt, ihr Ziel. Häufig sind es hübsche, junge Frauen wie sie, die mit Rollenspie­len bei den Zuschauern ASMR auslösen wollen. Immer freundlich, meistens lächelnd sprechen sie in die Kamera wie zu ihrer besten Freundin.

Noch haben Neurologen, Psychologe­n und Schlaffors­cher keine endgültige Antwort auf die Frage gefunden, wieso sich eine wachsende FanGemeind­e so für den „Gehirn-Orgasmus“interessie­rt. Experte Novella meint: „Dies ist nur ein weiteres Beispiel, dass unser Gehirn so fantastisc­h komplex und bizarr ist. Denn wie sonst kann man die Existenz von Videos mit geflüstert­em Latein und Papierknis­tern auf Youtube erklären?“

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FOTO: JENS BÜTTNER/ DPA In ihrer Youtube- Sendung „ Gentle Whispering“( Sanftes Flüstern) hilft Maria den Zuschauern dabei, zu entspannen.

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