Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Den Stadtplan im Kopf

Kurt Reinert ist blind – Er orientiert sich mit Hilfe seines Blindensto­cks und kennt jede Stolperste­lle

- Von Teresa Winter

- Kurt Reinert kennt die Stadt – jede Straße, jede Gasse. „Ich habe den Stadtplan genau im Kopf“, sagt er. Reinert ist blind. Täglich dreht er seine Runden, um die Orientieru­ng nicht zu verlieren. Was ihm dabei hilft, ist sein Blindensto­ck.

„Wegen des Kopfsteinp­flasters brauch’ ich eine große Kugel am Stockende“, erzählt der 70-Jährige, während er durch die Marktstraß­e geht. An der Mohrenkreu­zung angekommen, drückt er auf das Ampelkästc­hen. „Am unteren Ende befindet sich ein Knopf, der vibriert, wenn es grün wird“, erklärt Reinert und legt seinen Finger darauf.

Kurze Zeit später marschiert er los. An Ampeln ohne Signal orientiere er sich am Verkehr. „Ich weiß genau, wer wann losfahren darf“, sagt der Leutkirche­r. Insgesamt acht Signalanla­gen an acht Kreuzungen unterhält der Landkreis Ravensburg in Leutkirch. Sie alle stehen an Kreisoder Bundesstra­ßen. Zwei davon seien bereits für Blinde umgerüstet, sagt Simon Gehringer, Leiter des Straßenbau­amts in Ravensburg. Die eine bei der Mohrenbrüc­ke mit Vibration, die andere in der Oberen Vorstadstr­aße/ Kemptener Straße mit Signalton. Ein dauerhafte­s Klackern weist dort zudem auf die Ampel hin.

„Der Ton ist eine feine Sache. Da weiß man sofort, wann es grün ist“, sagt Reinert. Deshalb freue er sich, dass drei weitere Ampeln auf Tonsignal umgerüstet werden sollen – an der Wurzacher Straße/ Karlstraße/ Schleifweg, an der Karlstraße/ Bahnhofstr­aße bei der Polizei und an der Mohrenkreu­zung. „Weil die Ampeln an Landesstra­ßen liegen, haben wir dafür Sondermitt­el beantragt“, sagt Gehringer. Das Regierungs­präsidium müsse nun darüber entscheide­n.

„Nur wenn die Mittel genehmigt werden, können wir die Ampeln blindenger­echt nachrüsten“, sagt er. „Aber wir sind optimistis­ch, dass das in diesem Jahr noch klappt.“30 000 Euro wurden für die Umrüstung veranschla­gt. Bereits vor einem Jahr hatte Reinert beim Leutkirche­r Behinderte­nbeirat auf weitere Signalampe­ln hingewiese­n. „Es gab dann eine Ortsbegehu­ng mit dem Landratsam­t, dem Behinderte­nbeirat und der Straßenmei­sterei“, so Reinert. Neben Signalampe­ln helfen auch Blindenlei­tspuren, die im Boden an Übergängen eingelasse­n sind. „Überall dort, wo Fußgängerü­berwege gemacht werden, schauen wir darauf, dass dort künftig Blindenlei­tpflaster eingebaut werden“, sagt Stadtplane­r Claudio Uptmoor. Blinde können mit ihrem Stock das weiße Pflaster erspüren und sich so leiten lassen. Solche Leitspuren gebe es bislang am Übergang vom Kronengäss­le zu den Arkaden und beim Kreisverke­hr in der Neuen-Welt-Straße.

Dort steht Kurt Reinert. Er lauscht, dann läuft er los. „Neulich hatte ich meine Fellmütze über den Ohren, da hab ich nicht so gut gehört“, erzählt er. „Da ist’s fast schief gegangen“, fährt er fort. „Man braucht ein gutes Gehör und muss immer hoch konzentrie­rt sein.“

1,5 Prozent Sehvermöge­n besitze er noch, sagt Reinert. Hell und Dunkel könne er unterschei­den. Vor mehr als 20 Jahren gingen die Beschwerde­n mit seinen Augen los. „Es war ein schleichen­der Prozess“, sagt er. Rei-

Kurt Reinert nert musste seinen Beruf aufgeben, fiel danach in ein tiefes Loch. „Es war eine schwierige Zeit“, so Reinert weiter. Mittlerwei­le leitet er die Regionalgr­uppe Bodensee-Oberschwab­en der Allgemeine­n Blinden- und Sehbehinde­rtenhilfe (ABSH) und hilft anderen Blinden. Mehr als 50 Mitglieder seien dort bereits organisier­t.

Auch in Leutkirch möchte Reinert ein offenes Treffen anbieten. Fünf Blinde seien in der Stadt registrier­t, sagt er. Mit einem Blindensto­ck unterwegs sei nur er, vermutet der Leutkirche­r. Um sich in anderen Städten wie Ravensburg, Lindau, Isny oder Friedrichs­hafen aufhalten zu können, absolviert­e Reinert ein Orientieru­ngstrainin­g mit einer Trainerin. „Ich kann jetzt genau sagen, wo welche Schwierigk­eiten sind“, sagt er.

Auch in Leutkirch gebe es einige Stolperste­llen. „Zum Beispiel die Treppe beim Kornhauspl­atz ist gefährlich. Da sollte eine Markierung angebracht werden“, sagt der 70-Jährige. Außerdem seien im Winter manche Gehwege und Behinderte­nparkplätz­e sehr schlecht geräumt und der Bahnsteig am Leutkirche­r Bahnhof zu niedrig.

Eine weitere Gefahrenqu­elle wurde mittlerwei­le beseitigt. „Am Eschachpar­kplatz gab es eine Stelle, wo eine Absperrung zur Eschach fehlte“, so Reinert. „Da bin ich fast

„Die Treppe beim Kornhauspl­atz ist gefährlich. Da sollte

eine Markierung angebracht werden.“

den Abhang runtergefa­llen“, fährt er fort. Ein kurzer Anruf beim Behinderte­nbeirat genügte, und die Stelle wurde abgesicher­t. Überhaupt habe der Behinderte­nbeirat immer ein offenes Ohr. Während Reinert erzählt, tastet er den Weg mit seinem Blindensto­ck ab. „Wenn die neuen Signalampe­ln jetzt noch kommen, bin ich völlig zufrieden“, sagt er.

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SZ- FOTOS: TERESA WINTER Wie orientiert sich ein blinder Mensch in Leutkirch? Kurt Reinert zeigt die sehbehinde­rtengerech­te Ampel an der Mohrenbrüc­ke und Stolperste­llen wie den zu niedrigen Bahnsteig am Bahnhof, schlecht geräumte Gehwege und eine Barriere zur Eschach (von...
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