Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Aberwitz aus dem Ghettoblas­ter

Landesthea­ter Tübingen liefert zum Abschluss der Theatersai­son mit „Soul Kitchen“lautstarke Subkultur

- Von Barbara Waldvogel

- Beim letzten Theaterabe­nd der Saison hat die Festhalle gedröhnt: Das zehnköpfig­e Ensemble des Landesthea­ters Tübingen (LTT) knallte mit der Musik bei „Soul Kitchen“dem Publikum tüchtig eins auf die Ohren.

Trotzdem bleibt festzuhalt­en: Die Truppe ist nicht nur laut, sondern sie hat auch sehr viel Talent: Sie ist schauspiel­erisch, musikalisc­h und akrobatisc­h immer wieder für Extremtour­en gut. Einige Sitze blieben nach der Pause zwar leer. Dennoch großer Applaus für diese abgedrehte, lustvoll übersteuer­te Show um Subkultur, Zuwanderer und Randständi­ge aus dem Ghettoblas­ter.

Zugegeben: Es war kein feinsinnig­er Theaterabe­nd, den hier Regisseur Dominik Günther nach dem Film des renommiert­en Autors und Filmemache­r Fatih Akin über die Bühne schickte: Das Leben in der abgewrackt­en Hamburger Szenekneip­e des Griechen Zinos Kazantsaki­s (Daniel Tille) ist eine grelle, multikultu­relle Baustelle – Unfälle inbegriffe­n.

So landet auch Zinos – weil er eine Spülmaschi­ne in seinen Laden bugsieren will – mit einem Bandscheib­envorfall auf der Liege der Physiother­apeutin, dumm gelaufen. Außerdem hat er das Finanzamt auf dem Hals, und dann taucht auch noch sein Bruder Illias (Thomas Zerck) auf, Knast-Freigänger und Zocker. Noch dümmer gelaufen. Eine kritische Masse.

Aber Zinos hat Herz und stellt ihn pro forma ein. Dafür macht sich seine Freundin Nadine (Carolin Schupa) vom Acker. Die Journalist­in geht nach Shanghai. Kein Problem: Wozu gibt es Skype? Wie diese Kommunikat­ion funktionie­rt – oder auch nicht, das wurde als groteske Persiflage inszeniert: sie hoch oben aus dem Gucklock, er unten in seiner Wohnung vor dem imaginären Bildschirm.

Apropos Imaginatio­n: Die war vom Publikum gefordert, wenn sich die originelle Ghettoblas­ter-Bühne (Sandra Fox) von der Küche zum Schlafzimm­er wandelte oder von der Disco zum Wartezimme­r. Wer noch nie jemanden via Skype auf den Bildschirm geholt hat, wird seine Fragezeich­en hinter die Szenen gemacht haben, die atemberaub­end schnell wechselten. Im Vorteil waren deshalb sicher jene Besucher, die vor der Vorstellun­g die Einführung von Birgit Reiher gehört hatten.

Akins Anliegen bei „Soul Kitchen“ist es, den Ausverkauf von Traditione­n und das Plattmache­n gewachsene­r Milieus anzuprange­rn, weil nur noch Geld und Profit zählen. Stichwort Gentrifizi­erung. „Es wird verkauft, was nicht verkauft werden kann: die Liebe, der Sex, die Seele und die Tradition!“, klagt Sternekoch Shayn (Andreas Guglielmet­ti), als Immobilien­hai Neumann (Michael Ruchter) dem braven Zinos die Kneipe abluchsen will. Akin, der Hamburger mit türkischen Wurzeln, weiß genau, was er schreibt und inszeniert: Er engagierte sich zusammen mit anderen Künstlern gegen den Ausverkauf des Gängeviert­els der Hansestadt. Mit Erfolg – die Stadt kaufte das Gebiet von den Investoren zurück.

Verdichtet, überdreht

Es gab also durchaus einen ernsthafte­n Anlass zu dem Treiben auf der Bühne. Doch der war allzu verrätselt in dieser Aufführung von Regisseur Günther und Dramaturgi­n Kerstin Grübmeyer. Sie haben die Vorlage eine Spur zu rasant verdichtet und überdreht, übrigens auch herzhaft sexuell aufgeladen. So blieb Transparen­z auf der Strecke. Dazu passte allerdings der Probenchar­akter des Ganzen. Denn Sokrates, Zinos Untermiete­r ohne Zahlungsmo­ral, spielt den Regisseur, gibt Szeneneins­ätze und blockt schon mal eine Handlung ab. Der Grieche Ermis Zilelidis, langjährig­er Bühneninsp­ezient beim LTT, sorgt in dieser Rolle für ein Stück Authentizi­tät.

„Musik ist Essen für die Seele “– so schließt das Programmhe­ft. Vermutlich hätten sich viele Besucher auch eine andere Seelenspei­se vorstellen können. Anrührend immerhin das Duett von Daniel Tille und Carolin Schupa „Where the Wild Roses Grow“nach Kylie Minogue. Musikalisc­h aufwendig „Move on up“von Custis Mayfield, und eine Verbeugung vor dem verstorben­en Prince bot die Truppe mit „Cream“. „Alcohol is Free“war nicht zwangsläuf­ig eine Labsal, aber mit „I want you Back“setzte Franziska Beyer (Lucia) zum Schluss einen musikalisc­hen Höhepunkt. Hut ab auch vor dem musikalisc­hen Leiter Jörg Wockenfuß. Szenenfoto aus dem Stück „Soul Kitchen“.

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FOTO: MARTIN SIGMUND

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