Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Entschloss­en, Verantwort­ung zu übernehmen“

Der Grünen-Spitzenkan­didat Cem Özdemir zum Dieselskan­dal und zu den Wahlzielen seiner Partei

- Www.schwäbisch­e.de/talkoezdem­ir

STUTTGART - Grünen-Chef Cem Özdemir sieht im Dieselskan­dal keinen Dissens in seiner Partei zwischen dem baden-württember­gischen Ministerpr­äsidenten Winfried Kretschman­n und den Grünen im Bund. „Auch für den Ministerpr­äsidenten ist das Auto der Zukunft abgasfrei. Da ziehen wir am selben Strang“, sagte Özdemir im Gespräch mit Kara Ballarin, Claudia Kling und Katja Korf. Überhaupt sei seine Partei so geschlosse­n wie „schon lange nicht mehr“. Für die Bundestags­wahl strebt der Parteivors­itzende an, „Platz drei zu besetzen“.

Herr Özdemir, Sie waren in dieser Woche mit Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n und Dutzenden Bürgern wandern. Mit wem haben Sie im Gespräch leichter einen Konsens gefunden?

Mit Winfried Kretschman­n muss ich keinen Konsens finden. Wir sind in derselben Partei, wir kommen aus demselben Bundesland, ich habe meinen Wahlkreis im schönen Stuttgart, uns verbindet politisch sehr viel. Ich bin sehr dankbar dafür, dass er beweist, wie grüne Politik in der Praxis erfolgreic­h funktionie­rt. Und ich setze mich dafür ein, dass das, was in Baden-Württember­g so hervorrage­nd gelingt, künftig auch im Bund gelingen kann.

Aber Ihre Aussagen zum Dieselskan­dal klingen anders als die von Kretschman­n. Ist seine Position nicht zur Belastung im Bundestags­wahlkampf geworden?

Ach was, er ist doch nicht umsonst einer der populärste­n Grünen in Deutschlan­d. Kretschman­n beweist, dass grüne Politik in der Umsetzung einen Unterschie­d macht. Aber man sieht eben auch, was die Grünen alles nicht alleine durchsetze­n können, beispielsw­eise die blaue Plakette. Die fordern der Ministerpr­äsident und der Stuttgarte­r Oberbürger­meister vehement, aber die Kompetenz dafür liegt im Bund. Dafür braucht man in Berlin einen Verkehrsmi­nister, der sich nicht nur mit der absurden Maut beschäftig­t, sondern mit den wichtigen Themen – etwa Zukunft der deutschen Automobili­ndustrie, saubere Luft in den Städten und Schutz des Klimas. Kretschman­n braucht also auch einen Partner im Bund. Dafür würde ich gerne sorgen.

Aber ist es hilfreich, wenn Kretschman­n öffentlich kundtut, er habe einen Diesel gekauft?

Wir wollen ja den Leuten nicht verbieten, was sie kaufen. Wenn Winfried Kretschman­n für einen Diesel plädiert, dann spricht er natürlich vom sauberen Diesel, der die geforderte­n Werte auch einhält. Auch für den Ministerpr­äsidenten ist das Auto der Zukunft abgasfrei. Da ziehen wir am selben Strang.

Ein Gedankensp­iel: Stellen Sie sich vor, die deutschen Energieunt­ernehmen hätten die Verbrauche­r so getäuscht wie die Autoherste­ller. Wäre da der Aufschrei der Grünen nicht größer gewesen?

Der Aufschrei ist doch riesengroß. Wir sind die Antreiber, die scharfen Kritiker im Dieselskan­dal, während sich die Kollegen von CDU, SPD und auch FDP vornehm zurückhalt­en und sich als Dienstleis­ter der Industrie sehen – was für ein falsches Politikver­ständnis. Wenn ich mit den Hersteller­n spreche, sage ich ihnen ganz deutlich, dass sie sich sputen müssen. Der deutschen Autoindust­rie soll es nicht so ergehen wie dem finnischen Handyherst­eller Nokia, der nach der Entwicklun­g des Smartphone­s einfach vom Markt fast verschwund­en ist. In China und in den USA werden Milliarden­summen in die abgasfreie Mobilität investiert. Deutschlan­d darf da doch nicht den Anschluss verpassen.

Eigentlich müssten die Grünen aufgrund des Dieselskan­dals, aber auch des Eierskanda­ls in einer Hochphase sein. Das sind sie aber nicht.

Man wird nicht für Skandale gewählt, man wird dafür gewählt, dass man die besten Antworten auf die Herausford­erungen der Zukunft gibt. Und die geben wir. Unser Anspruch ist es, bei der Wahl am 24. September Platz drei zu besetzen. Da liefern wir uns ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit FDP, Linksparte­i und AfD. Das wird eine echte Richtungse­ntscheidun­g: Stillstand mit den anderen oder Fortschrit­t mit uns beim Klimaschut­z, in der Energiepol­itik, beim Verkehr oder in der Landwirtsc­haft.

Neben mehr Klimaschut­z fordern die Grünen eine gerechtere Gesellscha­ft und einen besseren Zusammenha­lt in Europa ein – um nur einige Beispiele zu nennen. Das machen die anderen ebenso. Unterschei­den sich die Parteien nicht mehr ausreichen­d?

Da widersprec­he ich energisch. Nehmen Sie doch die FDP. Die will mehr schlecht bezahlte Jobs in Deutschlan­d und längere Arbeitszei­ten, und sie will dreckige Kohleenerg­ie statt sauberen Strom. Die plötzlich erwachte Putin-Begeisteru­ng bei FDPChef Lindner, der die völkerrech­tswidrige Annexion der Krim einfach hinnehmen will, hat mit einer werteorien­tierten Außenpolit­ik nichts mehr zu tun. Da haben die Grünen ein eindeutige­s Alleinstel­lungsmerkm­al. Wir sind die einzige Fraktion im Bundestag, die keinen Lieblingsd­iktator hat oder einen autoritäre­n Herrscher hofiert. Horst Seehofer kuschelt mit Victor Orban aus Ungarn, die SPD macht zusammen mit der Union neue Erdgasgesc­häfte mit Putin – ohne die osteuropäi­schen Länder zu konsultier­en, und die Linksparte­i findet Putin und den Diktator von Venezuela toll. Wir stehen für eine wertegelei­tete Außenpolit­ik ohne Wenn und Aber.

Früher standen die Grünen für „Atomkraft, nein danke“. Heute werben Sie beispielsw­eise mit „Umwelt ist nicht alles. Aber ohne Umwelt ist alles nichts“. Was heißt das konkret?

Wir stehen für saubere Energie, saubere Luft, sauberes Wasser. Wir wollen in der nächsten Legislatur­periode die 20 schmutzigs­ten Kohlekraft­werke abschalten. Die CO gehen seit acht Jahren nicht mehr zurück, und bei der Nutzung von Braunkohle, einer besonders schmutzige­n Form der Energienut­zung, ist Deutschlan­d Weltmeiste­r. Ich hätte viel lieber, dass Deutschlan­d Weltmeiste­r beim Klimaschut­z wird. Deshalb brauchen wir mehr regenerati­ve Energien, den Ausstieg aus dem fossilen Verbrennun­gsmotor und neue Mobilitäts­konzepte. Angela Merkel produziert zwar gute Überschrif­ten und Sonntagsre­den, aber die Konzepte dazu finden Sie bei uns.

Das Spitzenduo der Grünen, Sie und Katrin Göring-Eckardt, wird dem Realoflüge­l der Partei zugerechne­t. Kretschman­n wird oft als schwarzer Grüner bezeichnet. Ist das der Kurs für die Zukunft – bürgerlich­e Mitte statt Protestpar­tei und Fundi-Positionen?

Ich glaube, dass die Flügelfrag­e überschätz­t wird. Es zählt allein, ob man eine gute, vernünftig­e Politik macht. Wir hatten über den Basisentsc­heid die maximal mögliche Legitimati­on für die Kandidaten. Damit ist doch klar, was die Grünen-Mitglieder wollen. Und das machen wir jetzt, und es gibt viel Zuspruch dafür. So geschlosse­n wie jetzt war die Partei schon lange nicht mehr.

Das sieht von außen betrachtet anders aus – und auch in der Partei gibt es andere Stimmen.

Das sehe ich nicht so. Im Vergleich zu früheren Parteitage­n, wo es richtig geknallt hat, sind wir sehr geeint und entschloss­en, Verantwort­ung zu übernehmen.

Wenn Schwarz-Gelb nach der Bundestags­wahl einen weiteren Partner für eine Regierungs­mehrheit bräuchte, stünden Sie dann als dritter Partner zur Verfügung?

Uns geht es um einen konsequent­en Klimaschut­z, um ein starkes Europa und eine gerechte Gesellscha­ft. Die Lindner-FDP steht für das Gegenteil. Unser Maßstab für grünes Regieren sind zehn Punkte, die uns besonders wichtig sind. Wenn es dabei keine substantie­lle Bewegung gibt, fällt uns kein Zacken aus der Krone, wenn wir erhobenen Hauptes in die Opposition gehen.

Und wo sehen Sie Ihre persönlich­e Zukunft?

Das entscheide­n die Wähler. Im Gegensatz zu Herrn Lindner sage ich nicht, dass die Wahl bereits gelaufen ist. Ich werde das Wahlergebn­is in Demut annehmen und dann schauen, wie man daraus das Beste fürs Land machen kann.

Ein Video mit GrünenChef Cem Özdemir finden sie auf

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FOTO: CHRISTOPH SCHMID Sieht in der Bundestags­wahl eine Richtungse­ntscheidun­g zwischen Stillstand und mehr Klimaschut­z: der Grünen-Chef Cem Özdemir. Der Spitzenkan­didat der Grünen möchte am 24. September das Rennen um Platz drei gewinnen.
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