Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Wenn Blicke töten können
Für den Verkehrspsychologen Helmut Katein ist Multitasking ein Mythos
RAVENSBURG - Telefonieren, kochen, fernsehen und nebenher noch eine dringende E-Mail schreiben – das geht doch alles gar nicht gleichzeitig! Die menschliche Fähigkeit zum Multitasking wurde teilweise widerlegt, an sie geglaubt wird jedoch weiterhin. So auch im Straßenverkehr. Doch während das Versagen zu Hause lediglich zu einer angebrannten Mahlzeit und Tippfehlern führen kann, endet es im Straßenverkehr oft tödlich. Denn Dinge gleichzeitig zu verarbeiten, ist für das menschliche Gehirn nicht möglich, behauptet Helmut Katein, diplomierter Verkehrspsychologe.
Im Straßenverkehr gehe es viel mehr um das schnelle Umschalten und um die richtige Bewertung des Verkehrsgeschehens. Bei Ablenkung sei dies nicht mehr ausreichend möglich, die Zeit, um entsprechend reagieren zu können, verkürze sich, das Unfallrisiko steige. Ablenken lasse sich jede und jeder. Bereits Unterhaltungen mit dem Beifahrer, Radiosendungen oder Musikbeschallung sorgen dafür, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr vollständig auf den Straßenverkehr gerichtet ist. Blitzschnelle Entscheidungen, die im Verkehrsgeschehen getroffen werden müssen, seien dann nicht mehr möglich und es komme oft zu schweren Unfällen. „Es gibt bis heute keine eindeutigen Zahlen, das ist das Problem. Wir haben keine Statistiken, die klar belegen, inwieweit die Benutzung des Smartphones und Ablenkung allgemein für Unfälle verantwortlich sind“, erklärt Herr Katein weiter. Anhaltspunkte gäbe es genug. Untersuchungen aus den USA, Österreich und der Schweiz kommen unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass etwa 30 Prozent aller Unfälle Ablenkung als Ursache haben. Auf Deutschland bezogen hieße das 80 000 vermeidbare Unfälle pro Jahr.
Der entscheidende Unterschied zu anderen Unfallursachen wie zum Beispiel Trunkenheit am Steuer sei, dass Ablenkung dramatisch unterschätzt wird. Der Mensch bemerke schließlich nicht, dass er etwas gerade nicht wahrnimmt. Sowohl junge als auch alte Autofahrer würden dazu neigen, sich zu überschätzen. Obwohl junge Autofahrer eine höhere Konzentrationsfähigkeit und ältere Fahrer mehr Verkehrserfahrung haben, kann ein Blick aufs Handy für alle Verkehrsteilnehmer böse Folgen nach sich ziehen. Sich während der Fahrt mit elektronischen Geräten zu beschäftigen, sei unter Umständen noch schlimmer, als angetrunken Auto zu fahren, stellt Katein fest. Schließlich lege ein Fahrzeug bei 50 Stundenkilometern etwa 14 Meter pro Sekunde zurück. Da könne viel passieren, wenn man nur ein oder zwei Sekunden nicht auf die Fahrbahn, sondern aufs Display schaut.
„Der Blick aufs Handy erhöht das Unfallrisiko um das Fünffache, das Eintippen einer Telefonnummer sogar um das Zwölffache“, behauptet Katein. Er erzählt von Klienten, die geschäftlich viel Auto fahren: „Jemand der ständig geschäftlich unterwegs ist – jeden Tag – der gibt natürlich zu, dass er am Steuer acht bis 15 Mal am Tag telefoniert. Alle 15 Monate gibt’s dann mal einen Bußgeldbescheid. Die Dunkelziffer ist also extrem hoch. Im Grunde entsteht dabei einfach eine fatale Form von Lernen. Man lernt, dass es gut geht.“
Die Überwachung der Verkehrsregeln sei also notwendig, mehr Polizeipräsenz jedoch praktisch nicht durchsetzbar. Der fortschreitenden Digitalisierung, die ja auch weitere Ablenkungsquellen wie komplizierte Bordcomputer mit sich bringt, sieht Katein nicht kritisch entgegen. Die Möglichkeit zunehmend autonomer Fahrzeuge bringe schließlich Vorteile mit sich, zum Beispiel wenn das Fahrzeug vor möglichen Gefahren wie schlechtem Spurhalten oder einer Überschreitung des Tempolimits warne. „Nach meiner Überzeugung wird es zwar auch durch diese Technik Unfälle geben, aber wir haben nach wie vor als entscheidenden Faktor für Unfälle im Straßenverkehr den Mensch als Verursacher. Wir sind nicht so gut wie ein Computer, ganz eindeutig nicht“, ist sein Fazit.
Wenn sich jeder ein bisschen selbst kontrolliere, sei schon viel geschafft. „Autofahren erfordert volle Konzentration, wenn man es ohne Fehler machen will“, gibt Katein zu bedenken. Deshalb gelte immer: Augen auf im Straßenverkehr, egal ob als Fußgänger, Radfahrer oder Autofahrer. Wenn die SMS, das Telefonat oder ein wichtiges Gespräch mit dem Beifahrer dringend sei, lohne es sich, mal rechts ranzufahren.