Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Gier frisst Hirn

- Von Dirk Grupe

Regelmäßig erreichen uns Meldungen von Gaffern bei Unfällen, denen Handyfotos wichtiger sind als das Leben der Verunglück­ten. Diese Form der Sensations­gier erscheint schockiere­nd, sie ist seit jeher jedoch tief im Menschen verwurzelt, gewisserma­ßen ein Teil seiner DNA. Dennoch gehört dieses Verhalten hart bestraft.

Gladiatore­nkämpfe im antiken Rom, Hexenverbr­ennungen im Mittelalte­r, der Pranger bis ins 19. Jahrhunder­t und heute Unfälle – die Schaulust gab es in allen Kulturen und zu allen Zeiten, längst ist sie gut erforscht. In uns allen steckt ein Gaffer, heißt es, eine Gier nach Sensation, die aus sicherer Entfernung wie eine ganz eigene Erlebniswe­lt funktionie­rt. Die Person setzt sich ins Verhältnis mit dem Opfer, fantasiert, bewusst oder unbewusst, was wäre, wenn sie das Unglück gepackt hätte. Nervenkitz­el, Neugier und der emotionale Kick im Anblick des Ungewöhnli­chen gehen hier eine Verbindung ein. Schlimmste­nfalls gefolgt von Empathielo­sigkeit, wenn etwa, wie einst geschehen, Gaffer ein Picknick veranstalt­en, um Freiwillig­en bei einer Flutkatast­rophe zuzusehen.

Nicht umsonst lautet jedoch ein Sprichwort: Gier frisst Hirn. Diese Verhaltens­weisen sind moralisch verwerflic­h und damit zu sanktionie­ren. Die Menschen haben sich mit gutem Grund eine Moral gegeben, das unterschei­det sie vom wilden Tier, das schafft Ordnung und ermöglicht Zusammenle­ben. Mag es auch künftig und vielleicht dauerhaft Gaffer und Neugierige geben, es bleibt die Aufgabe der Zivilisati­on, immer wieder korrigiere­nd einzugreif­en, und sei es durch Haftstrafe­n, wenn Leben gefährdet werden.

Überdies darf die Gesellscha­ft nicht müde werden, die Menschen aufzukläre­n, sie zu einem zivilisier­ten Handeln aufzuforde­rn. Dabei raten Experten auch, die eigene Angst zu überwinden und, statt zu gaffen, dem Opfer zu helfen. Vorsichtig Körperkont­akt zu suchen, es vor Zuschauern abzuschirm­en, mit ihm zu sprechen und zuzuhören. Daraus ergibt sich vielleicht eine andere Erlebniswe­lt, eine, die tiefer und länger wirkt als ein billiger Schnappsch­uss.

d.grupe@schwaebisc­he.de

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