Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Verloren in Zeit und Raum

- Von Welf Grombacher

Ursprüngli­ch sollte der Roman 500 Seiten umfassen. „Doch dann merkte ich, dass es immer besser wird, je ausführlic­her ich bin“, erklärt Thomas Lehr. Also habe er sich entschloss­en, alle fünf Jahre einen Band seiner, wie er sie nennt, „Deutschen Trilogie“herauszubr­ingen.

Nach der Lektüre von „Schlafende Sonne“, des ersten Bandes, der nach 640 Seiten mit den Worten „Wird fortgesetz­t“abbricht, klingt das wie eine Drohung. Viel zu viel will Lehr mit diesem für den Deutschen Buchpreis nominierte­n Buch, das den Ersten und Zweiten Weltkrieg ebenso verarbeite­t wie die

Wende- und Nachwendez­eit. Damit nicht genug. Wird die Geschichte doch an drei Figuren gebrochen, die für die Weltsäulen

Kunst, Wissenscha­ft und Philosophi­e stehen. Zentrale Gestalt ist Milena, die als Tochter eines Malers in der subversive­n Dresdner Kunstszene aufwächst, nach der Wende in Göttingen die Werke des Philosophe­n Edmond (hinter dem sich Edmund Husserl verbirgt) studiert, bevor sie bildende Künstlerin wird.

Husserls Phänomenol­ogie gibt das geistige Gerüst des Romans, die Form dagegen gleicht dem Sonnensyst­em. Wie Trabanten kreisen die Figuren um ein Zentrum. Raum und Zeit zerfließen. Das Buch knüpft so an die großen Romane der Moderne von James Joyce oder Uwe Johnson an, versucht, die zerfasernd­e Welt durch wechselnde Perspektiv­en zu fassen. Den ganzen Kosmos aber in dieses Theatrum Mundi mit einzubezie­hen, ist dann doch zu ambitionie­rt.

Thomas Lehr zu lesen heißt immer, sich auf ein Abenteuer einzulasse­n. Doch die Perspektiv­e bei „Schlafende Sonne“ist seltsam unbestimmt. Würde im Klappentex­t nicht stehen, die Handlung spiele an einem Tag, man wäre nicht darauf gekommen. Hier hat sich einer in Ekstase geschriebe­n und an sich selbst berauscht. Einem Betrunkene­n aber bei seinem Rausch zuzusehen, ist kein Vergnügen. Lehr kann schreiben, keine Frage. Sein neuer Roman aber ist misslungen. Buchpreis-Shortlist hin oder her.

Thomas Lehr: Schlafende Sonne, Hanser 2017, 640 Seiten, 28 Euro.

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