Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
A 96: Dobrindt und Kretschmann angezeigt
63 Mal Strafanzeige in Wangen wegen Körperverletzung und Verstößen gegen Grundgesetz
WANGEN - Die Anlieger der Autobahn 96 im Württembergischen Allgäu geben in ihrem Kampf für ein Tempolimit nicht auf. Insgesamt 63 Betroffene erstatteten jetzt Strafanzeige gegen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und Ministerpräsident Winfried Kretschmann wegen Körperverletzung und Verstößen gegen das Grundgesetz. Die Hoffnung der Antragsteller: die Bürger vor der Wahl wachzurütteln, damit das Thema wieder auf die politische Tagesordnung kommt.
Es ist Dienstagabend, als Gerhard und Roland Merk, Rainer Thiede und Erhard Schneider das Wangener Polizeirevier betreten. Im Gepäck hat das Quartett Strafanzeigen von insgesamt 63 Anliegern der A 96 zwischen Aichstetten und Wangen – gegen keine Geringeren als Alexander Dobrindt und Winfried Kretschmann. Dem CSU-Bundesverkehrsminister und dem Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten von den Grünen werfen sie Körperverletzung und Verstöße gegen das Grundgesetz vor. „Wer geschädigt wird, hat auch das Recht, Anzeige zu erstatten“, sagt Erhard Schneider vom Hof Eggen (Kißlegg).
„Wollen Bürger vor der Wahl wachrütteln“
Auslöser des drastischen Schritts war der jüngste Besuch von Winfried Kretschmann in Wangen am 1. September. Roland Merk aus dem Kißlegger Weiler Riehlings und der Waltershofener Armin Kohler hatten sich vor dem Festsaal der Waldorfschule positionert, erinnerten mit einem Banner an die nicht zustande gekommene, dauerhafte Geschwindigkeitsreduzierung auf der A 96 und machten so ihrem Ärger Luft. Der Ministerpräsident blieb stehen und unterhielt sich kurz mit den beiden. „Er hat zu uns gesagt, ,Was dem Amerikaner sein Colt, ist dem Deutschen sein Auto’ – also quasi unantastbar“, erinnert sich Kohler. Später im Saal nahm Kretschmann zu einem allgemeinen Tempolimit auf deutschen Autobahnen Stellung: „Wir schrubben seit 35 Jahren daran. Ich glaube nicht, dass das je kommt.“Es gebe schlicht keinen, der das „mit uns machen will“, ergänzte der Grünen-Politiker. Und: „Ich habe es aufgegeben, für das Tempolimit zu kämpfen, bis man in die Kiste springt.“Diese Aussagen sorgten bei den Anliegern – nach dem 2016 gescheiterten Modellversuch für Tempo 120 (siehe Kasten) – für zusätzliches Kopfschütteln und führten schließlich zur Unterschriftensammlung und den Strafanzeigen. „Das ist die nächste Eskalationsstufe“, sagt Rainer Thiede aus Ahegg bei Wangen.
Ein Hauptvorwurf gegen Dobrindt und Kretschmann lautet „Körperverletzung“: „Durch ein Tempolimit 120 km/h ließen sich die Anzahl der Toten durch Schadstoffe, Lärm und die Toten und Verletzten durch Verkehrsunfälle sowie die gesellschaftlichen Kosten erheblich reduzieren“, heißt es in dem elfseitigen Schriftstück, das der SZ Wangen vorliegt. Weiter werfen die A-96-Anlieger den beiden prominenten Politikern Verstöße gegen das Grundgesetz, Artikel 2 (Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) und Artikel 3 (Alle Menschen sind gleich), vor. Artikel 2 vor dem Hintergrund, dass Dobrindt und Kretschmann einst geschworen hätten, „Schaden vom Volk abzuwenden“, Artikel 3 deswegen, weil das Land Bayern laut Roland Merk „erheblich mehr für den Lärmschutz auf der A 96 gemacht hat“. Ein weiterer Vorwurf an Kretschmann lautet schließlich noch „Unterlassene Hilfeleistung“.
Die Strafanzeigen wandern nun von Wangen zur zuständigen Staatsanwaltschaft nach Ravensburg. Dort wird zunächst geprüft, ob wegen der Vorwürfe Ermittlungsansätze bestehen. Wenn nicht, wird das Verfahren eingestellt und die Antragsteller erhalten eine schriftliche Verfügung samt Begründung. Im anderen Fall besteht die Möglichkeit, Anklage zu erheben oder einen Strafbefehl zu erlassen. Hierfür brauche es jedoch laut Staatsanwaltschaft mitunter einen konkreten Straftatbestand. Abstrakte Gefährdungen reichten nicht aus. Auch die vier A-96-Anlieger gehen davon aus, dass das Verfahren eingestellt wird. „Uns geht es aber um die Stellungnahme und die Begründung der Staatsanwaltschaft und darum, die Bürger vor der Wahl wachzurütteln“, sagt Roland Merk. Und: „Wir sind über die aktuelle Situation einfach nur wütend.“