Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Flüchtlingsschicksale auf der Bühne
Die neue Saison und wie deutschsprachige Theater auf Probleme der Globalisierung reagieren
Einfache Antworten auf die Frage nach neuen Trends auf deutschen Bühnen gibt es alleine deshalb nicht, weil die Theater ganz unterschiedlich auf Besonderheiten der Städte und Regionen reagieren, in denen sie um Publikum werben. Diese Saison lässt sich eines aber sagen: Wie schon in der Zeit nach der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 sind die Spielpläne geprägt vom Themenkomplex „Flucht und migrantisches Leben in Deutschland“.
Es geht aber nicht mehr um die schnelle Auseinandersetzung mit Flüchtlingsschicksalen, sondern um die Frage: Was kommt nach der Flucht? Neben dem gewohnt gemischten Programm mit einem Anteil klassischer Theaterstücke und der Uraufführung neuer Dramatik warten die Spielpläne der nächsten Saison mit einer Fülle von Produktionen zum migrantischen Leben in Deutschland auf. Dabei werden künstlerisch gehaltvollere Formate angestrebt, als das in ersten Reaktionen der Fall war. Zu Wort kommen überwiegend Autor*innen, Regisseur*innen und Künstler*innen, deren Familien nach Deutschland emigrierten und die zum Teil hier geboren wurden.
Geschichte der eigenen Familie
Ein Beispiel: Die Großeltern der deutsch-türkischen Journalistin und Autorin Fatma Aydemir kamen als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland. Am Düsseldorfer Schauspielhaus gibt es zum Saisonstart die Uraufführung der Adaption ihres Romandebüts „Ellbogen“. Da geht es um ein postmigrantisches Einzelschicksal.
Neben solchen Dramatisierungen von Romanvorlagen gibt es eine Fülle projektbezogener Recherchen. An den Münchner Kammerspielen erkundet die Filmemacherin Uisenma Borchu mit „Nachts, als die Sonne für mich schien“zu Beginn der Spielzeit (1. Oktober) die Migrationsbewegung der eigenen Familie. Borchus Eltern kamen kurz vor dem Mauerfall aus der Mongolei nach Ostberlin. In dieselbe Richtung recherchiert der in Jordanien geborene Autor Hartmut El Kurdi, wenn er am Staatstheater Hannover mit „Home.Run“die „Migrationsgeschichte seiner weit verzweigten Familie“erzählt. Die Uraufführung der Koproduktion mit der freien Theater Agentur für Weltverbesserung ist Ende Oktober.
Einen wieder etwas anderen Weg geht man im Norden der Republik. Das Theater Osnabrück reflektiert Migrationsschicksale über einen antiken Mythos und sorgt dafür, dass in „Medea2“(UA 18. Februar 2018) eine schwarze und eine weiße Medea auf Spiegelbilder ihrer selbst treffen – die eine in Mosambik, die andere in Deutschland. Die Koproduktion mit dem Teatro Avenida Mosambik verwendet Texte mosambikanischer und deutscher Autor*innen, während es zu Chris Dercons Neustart als Intendant der Berliner Volksbühne ein Antikenprojekt nach Euripides „Iphigenie“gibt. Verantwortlich sind der syrische Schriftsteller Mohammed Al Attar und der syrische Theatermacher Omar Abusaada.
Indem die Theater derart konsequent Künstler*innen aus ganz unterschiedlichen Herkunftsländern verpflichten, internationalisieren sie sich einmal mehr und verdichten globale Migrationsphänomene in einzelnen Theaterabenden. Das gilt auch im Fall neuer Theatertexte, von denen derzeit sehr viele aus der Feder des Broadway-Autors und Pulitzer-Preisträgers Ayad Akhtar stammen. Am Theater Konstanz gibt es mit „Die unsichtbare Hand“(23. 2., Regie: Mark Zurmühle) einen Thriller: Ein westlicher Banker gerät in Gefangenschaft einer islamistischen Splittergruppe.
Akhtars derzeit am meisten gespieltes Stück ist „Afzals Tochter“. Hier gerät die Welt eines in den Westen emigrierten, strenggläubigen Pakistani durcheinander. Der Grund: Seine Tochter schreibt ein Buch über das wahre, auch von Leidenschaften geprägte Leben des Propheten. „The Who and the What“, so der amerikanische Titel, wird unter anderem am Karlsruher Staatstheater inszeniert. Dass das deutschsprachige Theater auf eruptive Probleme der Globalisierung sehr schnell reagiert, zeigt auch ein Blick auf das Phänomen der wachsenden Zahl von Autokraten, die demokratisch anmutende Staatsgebilde in Präsidialdiktaturen verwandeln. Man denke an Jarosław Aleksander Kaczynski, Victor Orbán und Recep Tayyip Erdogan, die die Verfassung Polens, Ungarns und der Türkei manipulieren. Das Stück der Stunde zu diesem Thema ist Albert Camus’ „Caligula“. In Darmstadt kam es zu Beginn der Saison auf die Bühne, Oliver Reese startet seine neuen Intendanz am Berliner Ensemble mit dem modernen Klassiker, dann ist das Bochumer Prinzregenttheater und das Düsseldorfer Schauspielhaus an der Reihe.
Roman als Vorlage
Zum Stück der Stunde kommen Adaptionen von George Orwells „1984“. Die Parabel eines total überwachten Staates kommt zum Saisonauftakt am Mannheimer Nationaltheater auf die Bühne. In Stuttgart verabschiedet Schauspiel-Intendant Armin Petras sich zum Ende der Saison mit „1984“von seiner Wahlheimat, und in Bochum würzt Olaf Kröck seinen Neustart als Intendant des Schauspielhauses mit einer Adaption von Jewgenij Samjatins „Wir“. Der Roman aus dem Jahr 1920 diente Orwell als Vorlage.
Es gibt noch weitaus mehr Auseinandersetzungen mit dem Thema. Exemplarisch genannt sei Elfriede Jelineks „Am Königsweg“, in dem die Nobelpreisträgerin sich auf ihre Weise dem Immobilien-Oligarchen und Verbalrüpel Donald Trump widmet. Die Uraufführung ist Ende Oktober am Hamburger Schauspielhaus. Nachgespielt wird der Text bis jetzt am ETA Hoffmann Theater Bamberg, Frankfurter Schauspiel und Berliner Deutschen Theater. Es sieht so aus, als würde der Jelinek-Text einmal mehr der am meisten gespielte der Saison werden.