Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Ausgerechnet Babynahrung
Perfide Erpressung um vergiftete Lebensmittel offenbart neben verbrecherischer Geldgier eine besondere Bösartigkeit
KONSTANZ/FRIEDRICHSHAFEN Wie ernst dieser Lebensmittel-Erpressungsfall aus Sicht der Ermittlungsbehörden ist, lässt sich am Donnerstagmittag an den wächsernen Gesichtern von Staatsanwälten, Polizisten und der Vertreterin des Ministeriums für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz ablesen. Während der kurzfristig einberufenen Pressekonferenz im Polizeipräsidium Konstanz bewegen sich die Sprecher in ihren Aussagen vor den Mikrofonen wie auf rohen Eiern. Es ist mit Händen zu greifen, dass sich niemand einen Patzer erlauben will, um die Ermittlungen dieser Erpressung „von bundesweiter Bedeutung“, wie der Polizeivizechef von Konstanz, Uwe Stürmer, mehrmals sagt, nicht zu verkomplizieren. Denn kompliziert genug ist die Sache auch ohne Fehler schon.
Mit monotoner Stimme fasst Stürmer die Ereignisse vor zwei Dutzend Journalisten zusammen: Demnach ist bereits am Abend des 16. September, einem Samstag, bei der Polizei, verschiedenen Verbraucherschutzorganisationen und Handelskonzernen mehr oder weniger zeitgleich eine E-Mail eingegangen. Diese Nachricht enthält laut Stürmer eine Art detailreiches Drehbuch, in dem der oder die Erpresser ihre Forderungen definieren. Es geht um einen Geldbetrag in „niedriger zweistelliger Millionenhöhe“, sagt Stürmer und bittet die Medien, gar nicht erst nach Ort, Zeit oder Umständen einer möglichen Geldübergabe zu fragen. Denn: „Sie werden Verständnis haben, dass wir dazu keine weitergehenden Angaben machen.“
Maximales Drohszenario
Das bedeutet zum Zeitpunkt der Pressekonferenz aber auch, dass eine Geldübergabe vielleicht sogar schon stattgefunden haben könnte. Schließlich liegt der 16. September bereits fast zwei Wochen zurück. Jedenfalls betont auch der Leitende Oberstaatsanwalt aus Ravensburg, Alexander Boger, dass der oder die Täter sehr planvoll, berechnend und gezielt vorgehen. Neben der Geldforderung enthält das Erpresserschreiben die Drohung, „20 vergiftete Lebensmittel in Umlauf zu bringen“, sollten die gestellten Bedingungen nicht erfüllt werden.
Der oder die Täter haben für ihr Verbrechen jedenfalls das maximal mögliche Drohszenario gewählt, indem er oder sie kurz vor Ladenschluss an besagtem 16. September ausgerechnet vergiftete Babynahrung in Friedrichshafener Supermärkte einschleusten. Mit fünf vergifteten Gläschen hat der Unbekannte am Samstagabend gedroht, alle konnte die Polizei schnell ausfindig machen.
Gründliche Kontrollen
Der Geschäftsführer einer der betroffenen Märkte berichtet der „Schwäbischen Zeitung“, er sei vorab über die Drohung informiert worden. Daraufhin seien umgehend gründliche und scharfe Kontrollen eingeführt worden. Ein aufmerksamer Mitarbeiter habe dann tatsächlich vor Ort ein verdächtiges Glas entdeckt, das die alarmierte Polizei abholte.
Die Entdeckung hat die Wachsamkeit noch einmal geschärft, seit Bekanntwerden der Drohung würden die Produkte permanent kontrolliert. „Wir tun alles, um Schaden von den Kunden abzuwehren“, so der Geschäftsführer, der nicht mit Namen in der Zeitung genannt werden möchte.
Lückenlos lassen sich die Waren allerdings kaum überprüfen. So sagt der Leiter eines Supermarktes in der
„Ein normaler Täter erpresst und droht. Dieser hat das Gift tatsächlich ausgelegt.“
Polizeivizepräsident Uwe Stürmer
Region auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“am Telefon: „So etwas können Sie doch gar nicht kontrollieren.“Das Warenangebot umfasse teilweise bis zu 10 000 Artikel. Jede einzelne Packung zu kontrollieren sei dabei „total utopisch“. Bislang spürt der Marktleiter, auch er seinen Namen nicht genannt sehen, aber nichts von übermäßiger Vorsicht bei den Kunden. Nur vereinzelt habe es ängstliche Kommentare von Einkaufenden gegeben. „Nach beschädigten Verpackungen halten wir sowieso immer Ausschau.“Doch wenn einer etwas unbemerkt deponieren wolle, dann sei das kaum zu verhindern. „Wir sind ein Supermarkt und kein Hochsicherheitsbereich.“
Dieser Umstand wird auch dem Täter bewusst sein, der ein eindeutige Signal aussendet: Mit mir ist nicht zu spaßen. Oder wie Stürmer der „Schwäbischen Zeitung“sagte: „Ein normaler Täter erpresst und droht. Dieser hat das Gift tatsächlich ausgelegt und damit bewiesen, dass er gefährlich ist.“Entsprechend intensiv haben die Behörden ihre Ermittlungen aufgenommen. Stürmer spricht von einer Sonderkommission, die bei der Kriminalpolizei Friedrichshafen angesiedelt ist und in der Spitze 220 Beamte in Atem hält. Dabei warnt Oberstaatsanwalt Boger davor, sich nur auf Babynahrung zu konzentrieren. Das Erpresserschreiben enthalte keinen Hinweis, dass sich das Gift nicht auch in anderen Lebensmitteln befinden könnte, wenn die Verbrecher ihre Drohung wahr machten.
Der Entschluss, schließlich mit Fotos und einem Video des „dringend Verdächtigen“an die Öffentlichkeit zu gehen, passt in das Gesamtbild der angespannten Lage. Stürmer sagt dazu: „Wir hatten gehofft, ihn anhand der Bilder zu ermitteln. Das Risiko war uns aber jetzt zu groß, deshalb die Pressekonferenz.“Und die öffentliche Fahndung. Nachdem die schmale Gestalt eines etwa 50 Jahre alten Mannes über die Leinwand geflimmert ist, appelliert der Polizeivizechef an die Medienvertreter: „Diese Bilder sind eine wichtige Spur. Bitte verbreiten Sie sie entsprechend. Wir hoffen auf Hinweise aus dem privaten Umfeld des Verdächtigen.“
Stürmer ist überzeugt, dass der Fahndungsdruck auf den Täter mit dieser Maßnahme „enorm steigt“. „Es wird ihm angesichts der veröffentlichten Bilder jetzt deutlich schwerer fallen, noch einmal etwas unentdeckt auszulegen.“
Petra Mock, die Ministerialrätin aus dem Stuttgarter Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz, sagt in dünnen Worten, dass Kontrollen verstärkt werden sollen. „Wir rufen die Bevölkerung zu erhöhter Wachsamkeit auf.“Angesichts der Tatsache, dass die oder der Erpresser laut Stürmer mit Gift verseuchte Lebensmittel „sowohl im süddeutschen Raum, in Österreich oder bundesweit“in die Märkte einschleusen könnten, wirkt dieser Hinweis fast hilflos. Die Staatsanwaltschaft spricht sogar von der Möglichkeit, dass der oder die Täter europaweit zuschlagen könnten.
Anlass zu „Panik oder Hysterie“sieht Uwe Stürmer ohnehin nicht. Der oder die Täter hätten sich bislang an ihr eigenes Drehbuch gehalten, was dazu geführt habe, dass die fünf im Erpresserschreiben erwähnten Gläschen mit Babynahrung in Friedrichshafen sichergestellt werden konnten, noch bevor ein Kunde nach besagtem Wochenende den Markt wieder betreten hätte. Stürmer zur „Schwäbischen Zeitung“: „Wir gehen bei dem Täter von Planungstreue aus.“
Welche Lebensmittelkonzerne und Märkte von der Drohung unmittelbar betroffen sind, sagen die Behörden nicht. Die erhebliche Unruhe in der Branche wird aber an den Kommentaren zum Beispiel von Aldi deutlich. Das Unternehmen schreibt auf Anfrage: „Wir können bestätigen, dass eine bundesweite Erpressung
„Wir müssen davon ausgehen, dass wir einen sehr skrupellosen Täter verfolgen.“ Polizeivizepräsident Uwe Stürmer
verschiedener Handelskonzerne vorliegt. Der Täter hat gedroht, Produkte mit einer giftigen Substanz zu kontaminieren. Seit Bekanntwerden stehen wir in engem Kontakt mit der zuständigen Polizei. Aldi Süd unterstützt die Ermittlungsarbeiten der Polizei und der Behörden umfassend und tut im Sinne seiner Kunden alles, um für Aufklärung zu sorgen. Wir bitten um Verständnis, dass wir zu einem laufenden Ermittlungsverfahren keine weitere Auskunft geben können. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an die zuständige Polizei.“
Das Gift selbst, Ethylenglykol, ist keine unbekannte Substanz. Beim Glykolwein-Skandal hat sie Mitte der 1980er-Jahre unrühmliche Bekanntheit erlangt. Verbraucherschutz-Ministerialrätin Petra Mock sagt: „Es ist eine farblose Flüssigkeit, die süßlich schmeckt.“Nichts also, was ein Kleinkind, wenn es einen kontaminierten Löffel mit Babybrei zu sich nimmt, von selbst ausspucken würde. Glykol wurde einst als frostsichere Kühlflüssigkeit für Automotoren entwickelt. Auch heute noch wird der Stoff, der sich problemlos im Baumarkt kaufen lässt, mit Wasser versetzt, als effektives Frostschutzmittel eingesetzt, zum Beispiel auf Flughäfen zum Enteisen der Maschinen. Glykol wird aber auch als Weichmacher verwendet oder als Lösungsmittel Farben zugesetzt.
Kleinere Mengen der Flüssigkeit reizen die Haut, die Schleimhäute und die Augen. Größere Dosen wirken toxisch auf das Nervengewebe, beeinträchtigen das Herz-KreislaufSystem sowie den Stoffwechsel und schädigen die Nieren. Die ersten Symptome einer Vergiftung ähneln einem Alkoholrausch mit Schwindel, Trunkenheit und Bewusstseinsstörungen. Die tödliche Dosis liegt bei etwa 1,4 ml pro kg Körpergewicht.
Umso stärker hallt der Satz von Uwe Stürmer nach: „Wir müssen davon ausgehen, dass wir einen sehr skrupellosen Täter verfolgen, der sehr ernsthafte Gesundheitsgefahren bis hin zum Tod von Menschen billigend in Kauf nimmt.“