Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Verwalter der Zeit
Hans-Peter Lübke ist Filmschaffender, Künstler und Lehrer für Sonderpädagogik
WEINGARTEN - „Am Sonntag geht man nicht ins Kino“. Hätte Hans-Peter Lübke nicht gewagt, dieser Grundregel seiner Eltern entgegenzutreten, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen – oder auch nicht. Dann wäre es vielleicht ein anderer Film gewesen, der die Leidenschaft für bewegte Bilder in ihm geweckt hätte. Und so war es an jenem „verbotenen“Sonntag „Blow-up“von Michelangelo Antonioni, den Lübke mit einem Freund in Keetmanshoop sah, der einzigen Stadt im Umkreis, in der es ein Kino gab.
Lübke wuchs als Sohn eines Missionars in Namibia auf. Im Alter von 10 Jahren kehrte die Familie Ende der Sechziger Jahre wieder nach Deutschland zurück. Das Kino-Erlebnis hat ihn nicht mehr losgelassen. Zunächst jedoch entdeckt er die Liebe zur Fotografie und zur bildenden Kunst. Mit 18 Jahren hat er seine erste Ausstellung.
Er studiert an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten Kunst und evangelische Theologie. Lübke ist begabt, einer seiner Lehrer will ihn auf die Kunstakademie in Stuttgart schicken, doch er entscheidet sich anders. Der Weg der Kunst ist steinig, bis man davon leben kann. „Ich hatte schon früh geheiratet und hatte Kinder“, sagt der 57-Jährige. „Ich wäre meiner Verantwortung gegenüber meiner Familie nicht gerecht geworden. Lübke wird Lehrer für Sonderpädagogik, unterrichtet an der Schule am Wolfsbühl in Wilhelmsdorf Kinder mit Hör- und Sprachproblemen in allen Fächern. Zusätzlich betreut er hörgeschädigte Kinder in allgemeinen Schulen. Als Pädagoge sieht er sich als Vermittler.
Doch der verpassten Chance trauert er keineswegs nach. Zeit und Raum für die bildende Kunst bleibt immer. Lübke stellt seine Werke im Kornhaus, in der Linse und in der Aula der Pädagogischen Hochschule aus. Seinen Lehrerberuf übt er mit Leidenschaft aus. In Israel war Lübke während seines Zivildienstes einem Mädchen begegnet, das verstummt war. Es gelang ihm, dass sie wieder sprach. Für ihn ein Schlüsselerlebnis. Im Jahr 2000 kommt dann die Wende zum Film. „Ich musste mich entscheiden“, erzählt er. „Entweder bildende Kunst oder Film.“Warum so kategorisch? Der Grund ist einfach. „Es ist eine Frage der Zeit“, erklärt Lübke. „Einen Film zu machen ist wesentlich zeitaufwändiger.“Erste Berührungspunkte gab es als sein Freund Thomas Fuchs Balladen des französischen Dichters François Villon mit Bildern Lübkes interpretierte. Der Film wurde in der Linse gezeigt.
Fasziniert ist Lübke von den Möglichkeiten, die ihm die Schnitttechnik bietet. Jede Augenbewegung sei wie ein Schnitt. Diesen natürlichen Prozess bewusst zu steuern, bedeutet für ihn, die Zeit stillstehen zu lassen und anordnen zu können. In diesem Sinne sei er ein Verwalter der Zeit. Das „Filmemachen“hat er sich autodidaktisch beigebracht, in Seminaren zur Kameraeinstellung, Produktion, zu Ton und Schnitt. So entstanden in den letzten sieben Jahren sechs Werke. Im Kern sind es Dokumentarfilme, die sich mit dem Thema „Menschen am Rande der Gesellschaft“beschäftigen.
In „Katzensterben“geht er der Geschichte von drei Jugendlichen nach, die eine Katze mit Benzin übergossen und angezündet hatten. „Wie geht die Gesellschaft damit um?“ist der Untertitel. „Der rote Schal“behandelt die Kommunikation zwischen Hörenden und Hörgeschädigten. „Wir sind ein Team“zeigt, wie Menschen mit geistiger Behinderung an der Gesellschaft teilnehmen, nämlich Fußball spielend. In „Tauerweide“begleitet Lübke eine Holocaust-Überlebende. „Weltensprung“dokumentiert die Begegnung hörgeschädigter Jugendlicher aus Deutschland, die in Tansania die größte Hörgeschädigtenschule im Süden des Landes besuchen. Und natürlich: „Auf der Suche nach Paul“. Wahrscheinlich Lübkes persönlichster Film, in dem er sich auf die Reise nach Namibia macht, um seinen Freund Paul zu suchen, von dem er nur ein Schwarz-WeißBild aus Kindheitstagen hat.
„Ich suche nicht bewusst nach Stoffen für meine Filme“, sagt Lübke. „Sie kommen zu mir.“In diesem Sinne ist er also eher ein Finder. Auftragsarbeiten lehnt er ab. „Ich bin in der Schule beauftragt“, sagt der Filmschaffende. „Beim Film bin ich mein eigener Auftraggeber.“Aber, was treibt ihn an? Weshalb steckt er seine Energie in Projekte, die sich finanziell kaum lohnen, ganz abgesehen von der Zeit, die damit verbunden ist. „Es ist mir ein ganz tiefes Bedürfnis“, sagt er. „Ich würde darunter leiden, wenn ich es nicht täte.“