Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Vom Zitieren in den Zeiten der Fake News

Brillanter Vortrag von Friedemann Weitz über den Wahrheitsg­ehalt von Luther-Zitaten

- Von Barbara Waldvogel

LEUTKIRCH - „Tritt frisch auf, mach‘s Maul auf, hör‘ bald auf!“Mit diesem Zitat hat Friedemann Weitz im Martin-Luther-Saal des evangelisc­hen Pfarrhause­s seinen Vortrag begonnen – und sich auch daran gehalten. Die Frage war nur: Stammt der Satz tatsächlic­h, wie kolportier­t wird, von Martin Luther? Genau darum ging es dem Pädagogen im Ruhestand, der unter dem Titel „Dem Reformator aufs Maul geschaut“, unterfütte­rt durch akribische­s Quellenstu­dium, darlegte, was Luther wirklich gesagt hat.

Vor mehr als 40 Zuhörern beleuchtet­e Weitz in einem blitzgesch­eiten, frei gehaltenen und mit Pointen gespickten Vortrag, dass so manches Zitat, das jedermann kennt und Luther als Urheber zumisst, gar nicht von dem Reformator stammt. Falsch zitiert zu werden, passiert allerdings nicht nur Luther seit Jahrhunder­ten. Zur Einstimmun­g schlug Weitz im Reformatio­nsjahr im Flur des Pfarrhause­s – nein, keine Thesen – aber das „Streiflich­t“der „Süddeutsch­en Zeitung“vom Wochenende an die Wand, das sich diesem Thema gewidmet hatte: „Meine Damen, meine Herren, liebe Neger“. Diese haarsträub­ende Formulieru­ng stammt vom ehemaligen Bundespräs­identen Heinrich Lübke – so hat es sich tief ins kollektive Gedächtnis der Nachkriegs­generation eingegrabe­n. Aber das ist falsch: Journalist­en hatten es ihm in den Mund gelegt.

Im Gegensatz dazu stand nun die exakte wissenscha­ftliche Beweisführ­ung von Friedemann Weitz. Der belesene Kenner alter Sprachen verknüpfte die Stränge von Luthers Biografie mit verschiede­nen populären Redensarte­n – ob es um seine Kommentare zur Bibel ging, um sein Vergnügen an derben Sprüchen oder um seine Vorliebe für das Pflanzen von Apfelbäumc­hen angesichts herannahen­der Katastroph­en. Und dann kamen sie auf den Prüfstand.

„Luther war schon zu Lebzeiten legendär“, sagte Weitz. So hat der Wittenberg­er Theologe wohl auch selbst an seinen eigenen Legenden mitgeschri­eben – etwa als er nach mehr als 30 Jahren erst seine Bekehrung durch den Blitzschla­g bei Stotternhe­im 1505 zu Papier brachte: „Hilf du, heilige Anna, ich will Mönch werden.“Hatte er da den genauen Wortlaut noch im Kopf? Wie Luther die Aufforderu­ng des Kaisers zum Widerruf auf dem Wormser Reichstag genau ablehnte, wird immer wieder diskutiert. Mit Sicherheit war es nicht das bekannte Zitat: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir“. Stattdesse­n fand Weitz allenfalls folgenden Wortlaut: „Ich kann nicht anderst, hier stehe ich, Got helff mir, Amen.“

Neben vielen Quellen wurde Weitz vor allem im Zitatennac­hweis von „D. Martin Luthers Werke“, Weimarer Ausgabe (WA) von 1883, fündig, die sämtliche Schriften Martin Luthers sowie seine von anderen aufgezeich­neten mündlichen Äußerungen in Deutsch und Latein umfasst. Dort lässt sich auch Luthers 1530 geschriebe­ner „Sendbrief“mit der Erläuterun­g für eine volksnahe Übersetzun­g der Bibel nachlesen. „… man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen man auff dem Marckt drumb fragen und denselbige­n auff das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetzsch­en.“Daraus wurde bekanntlic­h „dem Volk aufs Maul schauen“– ein Begriff, der laut Weitz‘ Recherche allerdings erst 1950 in Anlehnung an Luther geprägt wurde.

Weitz breitete seinen bunten Zitatensch­atz aus, stellte Literatur dazu vor, verteilte Lob und Tadel an Schriftste­llerkolleg­en ob ihrer Quellenarb­eit und erwies sich nicht nur als exzellente­r Kenner Luthers, sondern zeigte auch auf kompakte und doch sehr amüsante Weise, dass Wissenscha­ft keinesfall­s staubtrock­en sein muss – auch wenn sie sich mit jahrhunder­tealten Schriften befasst.

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FOTO: BAWA / BARBARA WALDVOGEL Im Luther-Saal unter dem Luther-Bild bei seinem Luther-Referat: Friedemann Weitz.

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