Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Vom Zitieren in den Zeiten der Fake News
Brillanter Vortrag von Friedemann Weitz über den Wahrheitsgehalt von Luther-Zitaten
LEUTKIRCH - „Tritt frisch auf, mach‘s Maul auf, hör‘ bald auf!“Mit diesem Zitat hat Friedemann Weitz im Martin-Luther-Saal des evangelischen Pfarrhauses seinen Vortrag begonnen – und sich auch daran gehalten. Die Frage war nur: Stammt der Satz tatsächlich, wie kolportiert wird, von Martin Luther? Genau darum ging es dem Pädagogen im Ruhestand, der unter dem Titel „Dem Reformator aufs Maul geschaut“, unterfüttert durch akribisches Quellenstudium, darlegte, was Luther wirklich gesagt hat.
Vor mehr als 40 Zuhörern beleuchtete Weitz in einem blitzgescheiten, frei gehaltenen und mit Pointen gespickten Vortrag, dass so manches Zitat, das jedermann kennt und Luther als Urheber zumisst, gar nicht von dem Reformator stammt. Falsch zitiert zu werden, passiert allerdings nicht nur Luther seit Jahrhunderten. Zur Einstimmung schlug Weitz im Reformationsjahr im Flur des Pfarrhauses – nein, keine Thesen – aber das „Streiflicht“der „Süddeutschen Zeitung“vom Wochenende an die Wand, das sich diesem Thema gewidmet hatte: „Meine Damen, meine Herren, liebe Neger“. Diese haarsträubende Formulierung stammt vom ehemaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke – so hat es sich tief ins kollektive Gedächtnis der Nachkriegsgeneration eingegraben. Aber das ist falsch: Journalisten hatten es ihm in den Mund gelegt.
Im Gegensatz dazu stand nun die exakte wissenschaftliche Beweisführung von Friedemann Weitz. Der belesene Kenner alter Sprachen verknüpfte die Stränge von Luthers Biografie mit verschiedenen populären Redensarten – ob es um seine Kommentare zur Bibel ging, um sein Vergnügen an derben Sprüchen oder um seine Vorliebe für das Pflanzen von Apfelbäumchen angesichts herannahender Katastrophen. Und dann kamen sie auf den Prüfstand.
„Luther war schon zu Lebzeiten legendär“, sagte Weitz. So hat der Wittenberger Theologe wohl auch selbst an seinen eigenen Legenden mitgeschrieben – etwa als er nach mehr als 30 Jahren erst seine Bekehrung durch den Blitzschlag bei Stotternheim 1505 zu Papier brachte: „Hilf du, heilige Anna, ich will Mönch werden.“Hatte er da den genauen Wortlaut noch im Kopf? Wie Luther die Aufforderung des Kaisers zum Widerruf auf dem Wormser Reichstag genau ablehnte, wird immer wieder diskutiert. Mit Sicherheit war es nicht das bekannte Zitat: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir“. Stattdessen fand Weitz allenfalls folgenden Wortlaut: „Ich kann nicht anderst, hier stehe ich, Got helff mir, Amen.“
Neben vielen Quellen wurde Weitz vor allem im Zitatennachweis von „D. Martin Luthers Werke“, Weimarer Ausgabe (WA) von 1883, fündig, die sämtliche Schriften Martin Luthers sowie seine von anderen aufgezeichneten mündlichen Äußerungen in Deutsch und Latein umfasst. Dort lässt sich auch Luthers 1530 geschriebener „Sendbrief“mit der Erläuterung für eine volksnahe Übersetzung der Bibel nachlesen. „… man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen man auff dem Marckt drumb fragen und denselbigen auff das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetzschen.“Daraus wurde bekanntlich „dem Volk aufs Maul schauen“– ein Begriff, der laut Weitz‘ Recherche allerdings erst 1950 in Anlehnung an Luther geprägt wurde.
Weitz breitete seinen bunten Zitatenschatz aus, stellte Literatur dazu vor, verteilte Lob und Tadel an Schriftstellerkollegen ob ihrer Quellenarbeit und erwies sich nicht nur als exzellenter Kenner Luthers, sondern zeigte auch auf kompakte und doch sehr amüsante Weise, dass Wissenschaft keinesfalls staubtrocken sein muss – auch wenn sie sich mit jahrhundertealten Schriften befasst.