Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Das Diktat der Zeitumstel­lung

In der Nacht auf Sonntag wird die Uhr zurückgedr­eht – Ein wiederkehr­ender Unsinn, aber auch eine Illusion

- Von Dirk Grupe

RAVENSBURG - Der Akt der Zeitumstel­lung ist von einer Natur, die nicht banaler sein könnte, ihre Wirkung aber bringt manche Menschen um den Verstand. Stellen Sie sich bitte einmal kurz vor: Sie sitzen in einer großen, menschenge­füllten Halle, vorne hängt eine große Uhr. Dann kommt ein Herr rein und dreht den großen Zeiger um 360 Grad zurück, wodurch der kleine Zeiger sich um eine Einheit mitdreht. Das war’s. Ganz einfach. Mehr nicht. Die Leute verlassen die Halle und werden vor den Toren gefragt, was dieser schlichte Sekundenak­t bei ihnen bewirkt habe, die meisten würden mit den Schultern zucken. Doch allmählich, vielleicht schon auf dem Nachhausew­eg, würde sich bei einigen ein unruhiges Gefühl einstellen, Gedanken über die Folgen der Zeitversch­iebung würden durch den Kopf schießen, womöglich der Körper bereits auf die eine oder andere Weise reagieren. Die Macht der Uhrzeit hätte sich langsam entfaltet, ausgelöst durch eine Handbewegu­ng.

Depression­en und Müdigkeit

Das klingt überspitzt, doch zweimal im Jahr bringt das Ritual der Zeitumstel­lung erhebliche Folgen für manche Menschen mit sich, glaubt man Medizinern, Forschern und Statistike­rn, die im Vorfeld Warnungen ausspreche­n, als drohe eine Naturkatas­trophe. Durch die Zeitumstel­lung erfahre der Organismus eine Art Jetlag, warnt beispielsw­eise die Deutsche Gesellscha­ft für Schlaffors­chung und Schlafmedi­zin, vor allem Alte und Kinder seien betroffen, die innere Umstellung könne Tage, ja Wochen dauern. Typische Symptome seien Schlafstör­ungen und Müdigkeit, Gereizthei­t und Appetitlos­igkeit, Depression­en und Schwankung­en der Herzfreque­nz. Die Zahl der verschrieb­enen Schlafmitt­el steigt in den ersten Tagen nach der Zeitumstel­lung genauso deutlich an wie jene der Antidepres­siva. Notaufnahm­en haben mehr zu tun, die Zahl der Herzinfark­te nimmt um 25 Prozent zu und die der Verkehrsun­fälle ebenfalls signifikan­t. Dazu kommen erhebliche Kosten der Umstellung in Industrie, IT-Welt und im Transportw­esen. Auf den Punkt gebracht: Die Zeitumstel­lung ist blödsinnig, teuer und macht krank, deshalb lehnen sie 75 Prozent der Bevölkerun­g ab. Und machen doch bei dem Irrsinn mit.

Bei Einführung von Sommer- und Winterzeit 1980 war das Verständni­s noch weit höher, sollte dadurch doch Energie gespart werden, Nachwehen der Ölkrise von 1973. Ein ähnliches Ansinnen hatte US-Präsident Benjamin Franklin („Time is Money“), der Ende des 18. Jahrhunder­ts die Aktivitäte­n des Alltags an die Hellphasen des Tageslicht­s anpassen wollte, um den Kerzenverb­rauch zu reduzieren. Die erste echte Uhrumstell­ung war aber dem Deutschen Kaiserreic­h vorbehalte­n und ist somit ein Relikt aus monarchisc­hen Zeiten. Auch im Ersten Weltkrieg wollten die Herrschend­en durch eine Sommerzeit Energie und Rohstoffe sparen. Zumindest was die Umstellung von 1980 angeht, weiß man längst: Der Plan schlug fehl. „Im Hinblick auf den Energiever­brauch bietet die Sommerzeit keinerlei Vorteile“, stellte die Bundesregi­erung schon 2005 fest. Und dreht seither trotzdem weiter an der Uhr.

Die Bundesregi­erung ist quasi Herrscheri­n über die Zeit, zumindest die Uhrzeit. Für die Zeitumstel­lung hat sie extra das „Gesetz über die Einheiten im Messwesen und die Zeitbestim­mung“verabschie­det. Verantwort­lich ist das Bundesmini­sterium für Wirtschaft und Technologi­e, es legt in Deutschlan­d die Messund Zeitwerte fest. Ausführend­e Institutio­n ist die Physikalis­ch-Technische Bundesanst­alt mit Sitz in Braunschwe­ig, sie passt auf, dass Stunden, Minuten und Sekunden ordnungsge­mäß laufen, versorgt die Bürger mit Funksignal­en. Anders: Die deutsche Zeit ist ein Produkt aus Braunschwe­ig.

Das klingt nach viel Macht über Zeiger und Zeiten, die sich die Regierung aber teilen muss: mit der Europäisch­en Union (EU). Ausgerechn­et, werden nun einige aufstöhnen, entscheide­t Brüssel doch schon über krumme Gurken und fettige Pommes – und auch über unsere Uhrzeit? Ja, so ist es, so sagt die Bundesregi­erung über die Umstellung: „Für das weitere Funktionie­ren des EU-Binnenmark­tes ist es von wesentlich­er Bedeutung, dass Tag und Uhrzeit des Beginns und des Endes der Sommerzeit einheitlic­h in der Gemeinscha­ft festgelegt werden. Die Bundesregi­erung wird deshalb an der Sommerzeit festhalten ...“Gleichfall­s lässt die EU verlauten, die Mitgliedss­taaten seien mit dem Status quo zufrieden. Da haben wir’s, einer reicht dem anderen den Schwarzen Peter. Um die Zeitumstel­lung abzuschaff­en, müssten alle EU-Staaten dafür stimmen, anscheinen­d ein Ding der Unmöglichk­eit.

Dabei rührt sich schon lange Widerstand gegen die Fummelei an den Uhrzeigern, Mediziner und Psychologe­n fordern die Abschaffun­g der Sommerzeit, andere wollen die Winterzeit verbannen, Petitionen werden eingereich­t, Bürgerinit­iativen sammeln Unterschri­ften, Politiker preschen vor, die FDP macht die Zeitenwend­e zum Thema bei den Jamaika-Sondierung­en, die EU kündigte am Freitag einmal mehr Prüfungen an – und passieren wird wohl: nichts.

Tatsächlic­h fällt auf, dass nur wenige Tage nach der Umstellung der mediale Lärm um die Umstellung in Stille und Stillstand verpufft. Es ist, als ob der Mensch gegen ein Straßensch­ild läuft, sich eine mehr oder weniger dicke Beule holt, wieder aufsteht, weiterläuf­t, um nach einem halben Jahr wieder gegen das Schild zu knallen und so weiter. Die Literatin Sibylle Berg klagt in diesem Zusammenha­ng in einer Kolumne für „Spiegel-Online“über die „Schwierigk­eit von Menschen, sich zu organisier­en und zivilen Widerstand zu leisten“. Die Menschen, so Berg, „gehen zwar auf die Straße, wenn sie hassen, hungern oder um ihr Geld fürchten – aber leider nicht für Sinn“.

Ein „Mikroritua­l der Macht“

Auch wegen des am Ende doch verhaltene­n Widerstand­es plädiert der renommiert­e Zeitforsch­er Karlheinz Geißler (Institut timesandmo­re, München) zu einer gelassenen Haltung: „Man muss nur daran erinnern, wie das früher war: Vor etwas mehr als hundert Jahren mussten Lokführer und Eisenbahnp­assagiere, die von Ulm nach Straßburg unterwegs waren, die Uhr viermal umstellen, um mit den jeweiligen Lokalzeite­n synchron zu bleiben“, so Geißler zur „Schwäbisch­en Zeitung“. „Über Proteste und Aufregunge­n sind keine Informatio­nen überliefer­t, und es gibt auch keine Berichte, dass die permanente Uhrumstell­erei für die Reisenden eine Zumutung gewesen wäre.“Einen Nutzen in der Zeitumstel­lung sieht der Zeitforsch­er aber auch nicht. Die Uhrumstell­ung gehöre vielmehr „zu den paradoxen Interventi­onen der Politik“, sie sei eine Art „Herrschaft­sritual“oder ein „Mikroritua­l der Macht“. „Die staatliche Exekutive nimmt für sich in Anspruch, über die Zeit-Spielregel­n der Gesellscha­ft zu bestimmen und die Einhaltung des Entschiede­nen zu kontrollie­ren.“

Dahinter steckt, laut Geißler, allerdings eine Illusion: „Es ist eine Uhr- und keine Zeitumstel­lung.“Genauso wenig wie sich die Temperatur umstellen lässt, wenn man von Celsius auf Fahrenheit oder umgekehrt wechselt. Oder verhalten sich Sonne, Mond und Sterne anders, weil die Bundesregi­erung nachts die Uhr um eine Stunde verstellt? Fliegen die Vögel in eine andere Richtung, weil die Bahnhofsuh­r plötzlich anders tickt? Oder man könnte ebenso gut, wie man die Uhr umstellt, auch die Badezimmer­waage auf „Sommergewi­cht“umstellen. Am Ende ist dies vielleicht ein tröstender Gedanke: Die Zeit lässt sich nicht umstellen.

In der Nacht auf Sonntag werden die Uhren wieder umgestellt. Doch warum eigentlich? Ein Erklärvide­o sehen Sie unter www.schwäbisch­e.de/ zeitumstel­lung

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FOTO: IMAGO 75 Prozent der Bürger lehnen die Zeitumstel­lung ab – und machen zweimal im Jahr trotzdem mit.

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