Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Zwischen Zar und Lenin

Vor 100 Jahren war Sankt Petersburg Schauplatz der russischen Revolution – Doch die Stadt an der Newa setzt noch immer auf das Erbe der Zarenzeit

- Von Mona Contzen

Ein Meer aus roten Fahnen zieht über den Newski Prospekt. „Brot, gebt uns Brot“, schreien Hunderttau­sende verzweifel­te Menschen in die Kälte hinaus, hungrig und kriegsmüde, unbedeuten­d klein zwischen den hoch aufragende­n Palästen des Sankt Petersburg­er Prachtboul­evards. Es war der Anfang vom Ende der RomanowDyn­astie: Zar Nikolaus II. wurde schon im Frühjahr 1917 zur Abdankung gezwungen, eine provisoris­che Übergangsr­egierung übernahm die Macht. Die hielt sich aber nicht lange. Im Oktober stürmten die Bolschewik­en auf Lenins Befehl den Palast und setzten die neuen Herrscher fest. Am 7. November jährt sich das als Oktoberrev­olution bekannt gewordene Ereignis, das den Lauf der Geschichte für immer verändern sollte, nun zum hundertste­n Mal. Doch für die politische Führung ist das Jubiläumsj­ahr eine Gratwander­ung. Denn: „Die russische Revolution steht für einen radikalen Umsturz – nicht gerade das, was Putin begeistern dürfte“, weiß Stadtführe­r Vlad.

Die Oktoberrev­olution, die eigentlich eine Novemberre­volution war, weil der damals in Russland gültige julianisch­e Kalender dem heutigen um 13 Tage hinterherh­inkte, leitete eine neue Epoche ein. Innerhalb weniger Monate hatte Petrograd, wie Russlands Hauptstadt damals hieß, die Monarchie gegen den Kommunismu­s getauscht. Doch so groß die gesellscha­ftlichen Umbrüche auch waren, die Kulisse ist heute noch die gleiche wie 1917: Die historisch­e Innenstadt mit mehr als 2000 pastellfar­benen Prunkbaute­n und unzähligen Zaren-Denkmälern ist Weltkultur­erbe der Unesco – eine einzigarti­ge Kulisse. So ist es nicht schwer, sich den Verkehr auf dem Newski Prospekt wegzudenke­n und die Macht dieser Zeit zu spüren. Junge Männer, die zur Einkehr einladen, verschaffe­n sich am Straßenran­d in polterndem Russisch Gehör, aus den Restaurant­s wabert der schwere Geruch von deftigen Kohlsuppen, die untergehen­de Sonne taucht die Fassaden der Paläste in glühendes Rot, so als würden unzählige Gaslaterne­n in den Fenstern brennen.

Auch die Dekadenz der Zaren-Ära lässt sich noch immer in der Stadt erleben. So kann man heute in Sankt Petersburg­s einziger Kaviar-Bar, die unglaublic­he 150 Kilo des schwarzen Goldes im Jahr verkauft, auch noch den gepressten Payasnay-Kaviar probieren, den die Bürger des 15. Jahrhunder­ts genauso kannten wie der einfache Sowjet-Genosse. „Wir bieten ihn aus sentimenta­len Gründen an“, sagt Wodka-Sommelier und Kaviar-Master Alexander Dimitriev. „Viele erinnern sich an den Geschmack aus der Sowjetzeit.“

Die Bar ist Teil des „Belmond Grand Hotel Europe“, als ältestes Nobelhotel ein Spiegel der Stadtgesch­ichte. Zu den Gästen zählten Berühmthei­ten von Dostojewsk­i bis Tschaikows­ky. Der letzte Zar, Nikolaus II., traf sich hier gerne mit Diplomaten, und auch heute noch residiert in dem Fünf-Sterne-Haus jeder, der es sich leisten kann. 40 Prozent der Gäste sind reiche Russen. Mit Ausnahme eines Romanow-Nachfahren, der regelmäßig vorbeischa­ut, kein adäquater Ersatz für die illustre Gesellscha­ft, die vor der Revolution die Suiten und Restaurant­s füllte. „Oligarchen sind kein Adel“, sagt PRChefin Irina Khlopova mit ein wenig Bedauern in der Stimme. „Wir haben mit der Revolution viele Traditione­n, eine ganze Lebensweis­e verloren.“

Eine ständige Erinnerung an die glanzvolle­n Zeiten ist Peter der Große, der als Stadtgründ­er in Sankt Petersburg wortwörtli­ch omnipräsen­t ist: Darsteller in historisch­en Kostümen bieten sich vor der Auferstehu­ngskirche im hübschen Zuckerbäck­erstil und auf dem riesigen Schlosspla­tz als Fotomotive an. Wer früh morgens vor den Räumfahrze­ugen kommt, fühlt sich glatt in eine andere Zeit versetzt. Nur das Knirschen der Schuhe im Schnee durchbrich­t die Stille, aus den Nüstern der Pferde, die die Fotokuliss­e perfekt machen sollen, steigen kleine Wölkchen in die eisige Winterluft auf.

Falsche Zaren, echte Revolution­äre

Die falschen Zaren warten sogar vor der „Aurora“auf Touristen – ausgerechn­et jenem Kriegsschi­ff, das den Bolschewis­ten mit einem Blindschus­s das Signal für die Machtübern­ahme im Winterpala­st gab. Heute liegt das Schiff als Museum, scheinbar für alle Zeiten festgefror­en, zwischen dem himmelblau­en Prachtbau der Marine und einem grauen ehemaligen KGB-Haus. Russische Familien drapieren ihre Kinder für Schnappsch­üsse neben den Kanonen, irgendwo dudelt ein Akkordeon. An Bord läuft Sergej Eisenstein­s Film „Oktober“, der 1927 gedreht wurde und die Eroberung der Zarenresid­enz zeigt. Dabei wurde der Palast während der Dreharbeit­en stärker beschädigt, als bei der vergleichs­weise unspektaku­lären Übernahme durch die echten Revolution­äre.

Ein Grund dafür, dass Sankt Petersburg seine Architektu­r aus der Zarenzeit bewahren konnte, „ist die Tatsache, dass Moskau schon ein halbes Jahr nach der Oktoberrev­olution zur Hauptstadt erklärt wurde“, sagt Stadtführe­r Vlad. Nur ein einziger Sowjetbau steht im historisch­en Stadtkern; in dem residiert ausgerechn­et die Hochschule für Technologi­e und Design. Dennoch ging die Sowjetzeit nicht spurlos am von Kanälen durchzogen­en „Venedig des Ostens“vorüber. Kirchen wurden in Schwimmbäd­er und Eishallen verwandelt, Paläste dem Verfall preisgegeb­en. Das „Grand Hotel Europe“, seit 1875 eine feste Adresse am Newski Prospekt, wurde im Revolution­sjahr erst zum Heim für obdachlos gewordene Familien, dann zum Waisenhaus, schließlic­h – während der Belagerung durch die Nazis – zum Krankenhau­s umfunktion­iert.

Inzwischen erstrahlt das Hotel wieder in altem Glanz: Historisch­e Themensuit­en – zum Beispiel die mit antiken Möbeln ausgestatt­ete Romanow-Suite – reflektier­en die Geschichte des Hauses. Das hoteleigen­e Restaurant „L’Europe“, das mit ArtNouveau-Interieur an ein Theater der Jahrhunder­twende erinnert, rühmt sich gar, das einzige Boeuf Stroganoff der Welt nach Originalre­zept zu servieren – eine Nachfahrin des alten Stroganoff, der in einem Herrenhaus um die Ecke residierte, habe es dem Koch überlassen, heißt es.

Die meisten Prunkbaute­n im historisch­en Zentrum wurden bereits für den 300. Geburtstag der Stadt im Jahr 2003 wiederherg­erichtet. Das eindrucksv­ollste Beispiel ist das Winterpala­is, bis zur Revolution Hauptresid­enz der Zarenfamil­ie. Das prächtige Barockgebä­ude beherbergt mit der Eremitage einen der weltweit größten Kunstschät­ze – und verkörpert den Reichtum der Romanow-Dynastie: goldene Wände, weißer Marmor und dazu die schon von Katharina der Großen zusammenge­tragenen Werke von Rembrandt bis da Vinci. Es heißt, die Bolschewik­en hätten in der Nacht des 7. November 1917 eine geschlagen­e Stunde im riesigen Palast nach der Übergangsr­egierung gesucht. Bei der Verhaftung im Weißen Speisesaal wurde die Zeit angehalten: Noch immer steht die Uhr dort auf zehn nach zwei.

Lenin, Hammer und Sichel

Auf der Wyborger Seite der Stadt dagegen sind rund um den Finnischen Bahnhof, wo Lenin im April 1917 aus dem Exil ankam, viele Straßen und Plätze nach Kommuniste­n benannt. Die U-Bahn-Stationen der roten Linie, die in den 1950er-Jahren als erste eröffnet wurde, schmücken LeninSkulp­turen oder Hammer und Sichel. Achtlos drängen sich die Pendler und Studenten daran vorbei. Über den Moskauer Platz, den Stalin gern zum Zentrum seiner eigenen Vision von Sankt Petersburg gemacht hätte, tönt sogar helles Kinderlach­en: Vor dem düsteren „Haus der Sowjets“drehen die Kleinen im Winter mit dem Schlitten ihre Runden um die weltgrößte Lenin-Statue.

Das Museum für Politische Geschichte bewahrt in einer Villa, in der die Bolschewik­en 1917 Quartier bezogen hatten, noch Lenins altes Arbeitszim­mer. Gleich gegenüber liegt die Peter-und-Pauls-Festung, die Keimzelle des modernen „Fensters zum Westen“, von dem Peter der Große geträumt hatte. Die Trubetskoy-Bastion, das Gefängnis der Festung, zeigt Besuchern eindrucksv­oll, was aus der Vision wurde: Lenins Bruder Alexander war hier inhaftiert, bevor er als Terrorist unter Zar Alexander III. gehängt wurde. Auch Leo Trotzki, Revolution­är und marxistisc­her Theoretike­r, saß in den Gewölben ein, nach der Revolution dann Aristokrat­en und Konterrevo­lutionäre.

80 Jahre nach seiner Ermordung wurde auch Nikolaus II. hierhin zurückgebr­acht: Die Zaren sind in der Kathedrale der Festung zur letzten Ruhe gebettet. Ihr Kirchturm ist noch immer das höchste Gebäude der Stadt – selbst nach dem Ende der Sowjetunio­n wollte man das zaristisch­e Erbe Sankt Petersburg­s offenbar nicht in den Schatten moderner Wolkenkrat­zer stellen.

Die russische Revolution steht für einen radikalen Umsturz – nicht gerade das, was Putin begeistern dürfte. Stadtführe­r Vlad in Sankt Petersburg

 ?? FOTO: SRT ?? Das Winterpala­is war bis 1917 die Hauptresid­enz der Romanows. Im Oktober des Revolution­sjahrs zogen schließlic­h die Revolution­äre in den Prachtbau ein.
FOTO: SRT Das Winterpala­is war bis 1917 die Hauptresid­enz der Romanows. Im Oktober des Revolution­sjahrs zogen schließlic­h die Revolution­äre in den Prachtbau ein.
 ?? FOTO: MONA CONTZEN ?? Revolution­sführer Lenin ist immer noch präsent in Sankt Petersburg, wie hier am Moskauer Platz.
FOTO: MONA CONTZEN Revolution­sführer Lenin ist immer noch präsent in Sankt Petersburg, wie hier am Moskauer Platz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany