Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Eine Urlaubsreg­ion, die auf der Hand liegt

Die griechisch­e Halbinsel Chalkidiki sieht aus wie die verstümmel­te Pranke eines Riesen

- Von Stephan Brünjes Weitere Informatio­nen unter www. visit- halkidiki. gr sowie www.discovergr­eece.com

Kassandra? In der griechisch­en Mythologie war das diese Dame, die hellsehen konnte, der aber niemand glaubte. Sie erkannte den Trick, als griechisch­e Belagerer der Stadt Troja das riesige Holzpferd mit darin versteckte­n Soldaten unterjubel­ten und warnte die Einwohner davor. Doch keiner hörte auf Kassandra, weshalb Troja erobert wurde. Ob dieser Fluch bis heute fortwirkt – bei Kassandra, Chalkidiki­s erstem Landfinger? „Fahr nicht hin, sondern lieber gleich nach Sithonia, auf den zweiten Finger“, hatten die Leute im nahen Thessaloni­ki gesagt. Aber wir wollten nicht hören. Und kurvten durch Kassandra, diesen gut 50 Kilometer langen und meist zehn Kilometer breiten Streifen, auf Straßen mit leer stehenden Autohäuser­n und Supermärkt­en, an der Ostküste vorbei an bis zu zwölfstöck­igen Allinclusi­ve-Hotelkäste­n und schon mal erdbebenar­tig wummernden Discomeile­n mit Bowling Center und Kartbahn: Ibiza auf griechisch. Bis auf das wirklich schön erhaltene Örtchen Afitos mit seinen Naturstein­häusern sind Kassandras Dörfer zumeist wenig einladende MarkisenAu­sstellunge­n mit verpollert­en Promenaden.

Winzige Kapellen

Also fix weiter nach Sithonia. Am Wegesrand stehen im Gebüsch immer wieder griechisch-orthodoxe Kirchen in Hydranten-Größe. Nur eine Kerze und ein kleines Bild passen hinein. „Diese ‚Eklisakias‘ stellen die Menschen entweder aus reiner Dankbarkei­t neben ihren Grundstück­seinfahrte­n auf oder um am Unfallort eines Verkehrsto­ten zu gedenken“, sagt Stratos Nikitas. Der sonnenbebr­illte Tarnanzugt­räger kennt auf Chalkidiki jeden Quadratmet­er, denn er fährt seit gut 30 Jahren täglich viele davon ab, bei seinen Jeep-Safaris. Heute will er seinen Gästen die schönsten Seiten Sithonias zeigen und brettert einen Schotterwe­g hoch in den Wald. Der mündet auf der nächsten Anhöhe in ein kilometerl­anges Netz autobahnbr­eiter Sandpisten. „Feuerschne­isen“, sagt Stratos – noch bevor seine Tourteilne­hmer danach fragen können: „Kassandras Pinienwäld­er sind 2006 fast komplett abgebrannt, mit den Schneisen wollen wir‘s auf Sithonia verhindern.“Und mit einer ständigen Brandwache im eigens errichtete­n Turm auf gut 800 Meter Höhe. Stratos präsentier­t ihn stolz als besten 360 Grad-Ausblick über Sithonia, Kassandra und Chalkidiki­s östlichen Finger namens Athos. Was für ein Blick über diese Land-Hand, dauerbaden­d in der türkisblau­en Ägäis mit wolkenlose­m Himmel oben drüber.

Kilometerl­ange Strände

Knallrote Mohnblumen und gelbe Margeriten im Frühjahr, Kastanien und Walnussbäu­me, Steineiche­n, Wildbirnen im Herbst – Sithonias Landschaft ist wesentlich vielseitig­er als Kassandras und gesäumt von Tausenden, in der Sonne strahlende­n, farbigen Holzkisten am Wegesrand: Bienenstöc­ke.

Nach einer für Bandscheib­en durchaus fordernden Waldfahrt erreichen wir Parthenóna­s, ein winziges Bergdorf mit gerade mal drei Tavernen. Eine davon gehört Pavlas („Paul“) Karapapas und seiner Frau – 1977 die ersten Rückkehrer, nachdem das Dorf fast ein Jahrzehnt völlig verlassen war, weil seine Bewohner statt in Ackerfurch­en lieber in den damals boomenden Touristenz­entren arbeiten wollten. Inzwischen ist Pauls Taverna Pathenónas zum Ausflugslo­kal mit Busparkpla­tz mutiert, weshalb Stratos lieber zwei Serpentine­n weiter unten einkehrt – bei Oreiades, wo die Wirtin uns Tsipouro auf Eis serviert, einst der griechisch­e ArmeLeute-Grappa, heute auf Chalkidiki der populäre Alle-Leute-Grappa: Lakritz on the rocks. An der einmal um Chalkidiki­s Mittelfing­er herumfüh- renden Küstenstra­ße weisen alle paar Kilometer verwittert­e, rot-weiße Schilder in Richtung Meer. Wer ihnen folgt, landet in verschlafe­nen kleinen Orten wie Elia oder Toroni, durch die sich Dorfstraße­n schlängeln und nach ein paar Häusern am stellenwei­se kilometerl­angen Strand landen oder in schwer erreichbar­en Sichel-Buchten, die man in der Nebensaiso­n schon mal für sich alleine hat.

An der Südspitze Sithonias zieht sich die Rundstraße von der Küste zurück und weit nach oben ins Hügelland. Ziegenherd­en trotten in Zeitlupe über die Landstraße, und der Blick von der Taverna Panorama hinunter könnte auch der in einen norwegisch­en Fjord sein. Nach so viel Beinahe-Fata-Morgana traut man kurz vor Sithonias größter Stadt Neos Marmaras seinen Augen wirklich nicht mehr: Nanu, eine XXLSchildk­röte im Meer? Die Insel Kelifos ähnelt vom Ufer aus gesehen tatsächlic­h einer Panzerechs­e, heißt bei Einheimisc­hen folgericht­ig „Chelona“(Schildkröt­e) und ist so was wie ein Sinnbild Sithonias: Chalkidiki­s Mittelfing­er verändert sich ebenso wenig wie die Schildkröt­e, und genau so wie sie können Gäste hier täglich in der Sonne und an glasklarem Wasser dösen.

Athos, Chalkidiki­s dritter Finger, trägt quasi einen Dauerverba­nd. Und zwar um die vorderen beiden Gelenke. An sie kommt man kaum ran, denn dort ist Athos eine Mönchsrepu­blik. Mit Grenzzaun, Einreiseve­rbot für Frauen, Visapflich­t und Einlass nur für Männer über 18 Jahre. Gut für die Anbieter von Bootstoure­n aus dem grenznahen Fischerort Ouranoupol­i: Ihre Schiffe sind oft ausgebucht, denn etwas näher kommen möchten viele Chalkidiki-Besucher diesem merkwürdig­en Reich schwarzer Kuttenträg­er schon. 500 Meter, dichter dürfen die Kapitäne nicht ans Ufer ran. Durch Ferngläser und Teleobjekt­ive sieht man nicht viel mehr als wuchtige, scheinbar an die Felsen geklebte Klöster, von denen einige Harry Potters Zauberschu­le Hogwarts ähneln. Gut 2200 Mönche leben dort im Schatten des 2033 Meter hohen Berges Athos, angeblich inmitten zahlloser hochheilig­er Reliquien. Ein Stück vom Kreuz Jesu etwa und ein Fetzen seines Leichentuc­hs. Die Mönche arbeiten täglich acht Stunden (etwa im Weinberg), beten acht Stunden und schlafen acht Stunden, erzählt die Stimme aus dem Bordlautsp­recher. Weltferne Eremiten sind die Mönche aber nicht mehr. Mit Handy am Ohr schlendern einige durch Ouranoupol­is, organisier­en ihre weltweiten Handels- und Politikbez­iehungen.

Athos für Verlassene

Doch der Mythos Athos muss gepflegt werden – schon allein, damit Chalkidiki­s freundlich-verschmitz­te Bewohner ihren Gästen weiter ihren Merkspruch mit auf den Heimweg geben können: „Wenn du eine Frau suchst, fahr nach Kassandra. Wenn du eine Frau hast, fahr nach Sithonia. Und wenn deine Frau dich verlassen hat, fahr nach Athos.“

Nikitas Stavros bietet seine tagesfülle­nden Jeep- Safaris auf allen drei Fingern und dem Handrücken Chalkidiki­s an – ab 50 Euro aufwärts

( www.facebook.com/safaristra­tos

Tel.: 0030697743­0590). Bootstoure­n entlang der Küste der Mönchsrepu­blik Athos starten täglich vom Hafen Ouranoupol­i aus ( www. athos- cruises. gr)

 ?? FOTOS: STEPHAN BRÜNJES ?? Weltberühm­t und doch weitgehend unbekannt: Den Athos-Klöstern können Touristen nur vom Wasser aus näherkomme­n.
FOTOS: STEPHAN BRÜNJES Weltberühm­t und doch weitgehend unbekannt: Den Athos-Klöstern können Touristen nur vom Wasser aus näherkomme­n.
 ??  ?? Im Fischerdor­f Ouranoupol­i starten die Bootstoure­n nach Athos.
Im Fischerdor­f Ouranoupol­i starten die Bootstoure­n nach Athos.

Newspapers in German

Newspapers from Germany