Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Das Ende der Institutio­n „Rössle“

Traditions­reicher Gasthof und legendäre Musikkneip­e weicht Mietwohnun­gen

- Von Tobias Schumacher

ISNY - Am Montag ist die rechte Hälfte der Fassade an der Obertorstr­aße verschwund­en, nachdem in den Tagen zuvor schon Teile des Dachstuhls abgebroche­n worden waren und sich ein Bagger vom rückwärtig­en Parkplatz an der Stadtmauer aus ins Gebäudeinn­ere vorgearbei­tet hatte: Bald wird vom früheren Gasthof, zuletzt Bistro „Rössle“nichts mehr übrig sein. Ein weiteres historisch­es Wirtshaus, das zuletzt rund zehn Jahre lang leer gestanden hatte, verschwind­et aus dem Isnyer Stadtbild.

Nach dem Verkauf durch die Brauerei Stolz ist heute Rainer Geser der Eigentümer, einer der Geschäftsf­ührer der „Immobilien- & Verwaltung­sgesellsch­aft (IVG)“in Leutkirch. Er will die entstehend­e Baulücke mit einem Neubau füllen: „Dort entstehen elf Mietwohnun­gen, Baubeginn ist im Frühjahr 2018“, erklärte er auf Nachfrage der SZ. Das Gebäude werde „ähnlich von Lage und Anordnung“wie das alte Rössle errichtet und der „Bestandsbe­bauung in der Altstadt angegliede­rt“. An der rückwärtig­en Südseite sollen wie zuvor Autostellp­lätze, nur „schöner angelegt“werden, präzisiert­e Geser.

So mancher, der in Isny aufgewachs­en ist, passiert die Abbruchbau­stelle mit wehmütigen Erinnerung­en. Denn das Rössle war seit Anfang der 1980er-Jahre eine der Musikund Jugendknei­pen schlechthi­n in der Stadt. Letzte Wirtin, von Ende 1989 bis 1996, war Maria Böck, wie sie mit damaligem Mädchennam­en hieß. „Eine super schöne Zeit, es war genial“, resümierte sie unlängst beim Blättern in einem Stapel von Fotoalben, die sie aus den fast sieben Jahren als Rössle-Chefin aufgehoben hat: Schnappsch­üsse von Stamm- und Gelegenhei­tsgästen oder von Pärchen, die einst an ihrem Tresen zueinander fanden. Manche sind heute verheirate­t, ihre Namen kennt die ExWirtin noch allesamt.

Zur Tür rein, durchs Fenster raus Oder Fotos der legendären Silvesteru­nd Fasnetpart­ys. Bei einer, erinnert sich Maria, sei es in den zwei Gasträumen so voll gewesen, dass die Guggenmusi­ker, die vorne zur Tür hereingeko­mmen waren, nach dem Musizieren durchs Fenster zurück auf die Straße steigen mussten. Ähnlich war es mitunter bei Live-Konzerten: „Ich hatte öfter Bands, etwa Pit Gogl mit ’Stormy Monday’, oder die ’Christiana Leydon Band’ aus Wangen.“Die spielten auf einer kleinen Bühne im Gewölbe des Nebenraums.

Eingebaut hatte diese Michael Obermayer, der das Rössle seit Anfang der Achtzigerj­ahre führte, später gemeinsam mit seiner Frau Gabi. Prominente­ster Live-Gast zu jener Zeit: Jupp Zeltinger mit Band anno 1987, der legendäre Kölsch-Rocker. Auch an diesem Abend war die Bude brechend voll. Und sowieso bei den „Beachparty­s“, für die das Wirtepaar schon mal zentnerwei­se Sand in die Kneipe kippte. In der „HochZeit“der Obermayers drängten sich an den Wochenenda­benden weit über 100 Freunde der härteren Musik um die alte braune Theke, die noch aus der Zeit des Rössles als Speisegast­stätte stammte. Mittendrin im Getümmel: Gabi, im knappen Top und schwarzen Ledermini, blonde Föhnfrisur, die Seele der Kneipe, trotz spitzer Zunge, unumschrän­kte Chefin, vor allem betriebswi­rtschaftli­ch. Michael neigte eher zu Gutmütigke­it.

Rastlos, fleißig und geschäftst­üchtig waren beide. An der Theke wurden sie, wenn’s hoch herging, oft unterstütz­t von einem engen Freund und seit Jahrzehnte­n in Isny allseits bekannten Taxifahrer. Eine zeitlang auch von einer Langzeitst­udentin, die an der NTA noch Chemie-Ingenieuri­n wurde – trotz Rössle, wo sie kellnerte, im ersten Stock wohnte, in einer Wohngemein­schaft, die wahlweise „Rössle-WG“oder mit dem Zusatz ihres Nachnamens tituliert wurde.

Was heute geradezu unvorstell­bar ist: Michael Obermayer, vor wenigen Jahren auf tragische Weise ums Leben gekommen, öffnete in seiner Anfangszei­t als Wirt bereits am frühen Nachmittag, und seine Gäste waren Teenager, versammelt auf den dunklen Holz-Eckbänken und rund um die roten Resopal-Tische – die wiederum aus jener Zeit stammten, als im Rössle noch Speisen serviert wurden, bis Ende der Siebzigerj­ahre – zum Kartenspie­l. Die Geldbeträg­e, die den Besitzer wechselten, überstiege­n bei so manchem das monatliche Taschengel­dbudget.

Teenager beim Glücksspie­l Abends dann die Trinkkunds­chaft an den großen Tischen, wie es sie sonst in Isny in kaum einer Kneipe gab, Cliquen und Freundeskr­eise in geselliger Runde, im angeregten Gespräch vereint. Bis die Popkultur Einzug hielt: Den Anfang vom langsamen, zähen, bitteren Ende der Obermayers als Rössle-Wirte markierten Fernseher, die Gabi und Michael in die Ecken der Gasträume hängten. Dort lief, mächtig laut, der neu auf Sendung gegangene Musikkanal „MTV“. Was als hippe Innovation und Investitio­n in die Zukunft gedacht war, geriet zum Stimmungsk­iller. Die Gäste starrten nur noch auf die Bildschirm­e, Gespräche erstarben, wurden vermisst, der langsame Exodus begann.

Unterkunft für Winterspor­tler Anekdoten wie diese ließen sich über das Rössle viele erzählen. So birgt Maria Böck in ihrem Privatarch­iv auch einen Werbezette­l unbekannte­n Datums, mit dem sich der seinerzeit­ige Besitzer Heinrich Thomann an „alle Skifreunde und Winterspor­tler“wendet. Er biete „wirklich gemütliche Räume bei anerkannt vorzüglich­er Bewirtung und Unterkunft“und wolle „zu den bevorstehe­nden Festtagen und für allen sonstigen Bedarf prima naturreine Weine in Flaschen und offen sowie feinste Liköre , Sekt usw.“empfehlen. Auch gebe es „für Kranke weiße und rote alkoholfre­ie Traubensäf­te“.

Seinerzeit war das Rössle samt „Rössle-Keller“Gastwirtsc­haft und Weinhandlu­ng. Thomann bot hierin „schöne Fremdenzim­mer“mit „Zentralhei­zung, fließend kalt und warm Wasser“zu einem „Pensionspr­eis DM 5.50 bis DM 6.- pro Tag“; eine „gute Übernachtu­ngsgelegen­heit“, in der der „Preis pro Bett DM 2.- bis DM 2.50“betrug. Geworben wurde auch als „Einkehrsta­tion für Omnibusse“samt „Abstellgel­egenheit für Kraftfahrz­euge“. Die Werbebotsc­haft endet mit den Worten: „Es halten sich bestens empfohlen Heinrich Thomann und Frau.“

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FOTO: MARIA BÖCK Über viele Jahre hinweg gab es im Nebenraum Live-Musik.
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FOTO: STS Das Rössle Ende vergangene­r Woche, die Fassade rechts fiel vorgestern. Auch das rote Haus am linken Bildrand soll abgerissen werden.

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