Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Vom Bambi zum Terminator

Christian Lindner hat Jamaika beendet – doch er will nicht alleine die Verantwort­ung für das Scheitern übernehmen

- Von Sabine Lennartz

BERLIN - „Eine ganz schlechte Inszenieru­ng der FDP“, schimpft am Morgen danach Grünen-Geschäftsf­ührer Michael Kellner. Und CDU-Vize Julia Klöckner bescheinig­t schon in der Nacht den Liberalen eine „gut vorbereite­te Spontanitä­t“. Vier Minuten vor Mitternach­t hat FDP-Chef Christian Lindner das Aus der JamaikaSon­dierungen verkündet.

Pures Kalkül, um durch Neuwahlen mehr Stimmen zu gewinnen, meinen viele Sondierer. Nein, es ging um Überzeugun­gen, sagt Lindner. Der Entschluss zum Ausstieg bei der FDP ist zumindest den ganzen Sonntag über gereift. Erst ärgerten sich Lindner und Co über Jürgen Trittins Interview in der „Bild am Sonntag“. Da hatte das grüne Urgestein noch einmal Pflöcke eingerammt wie jenen, dass die Aussetzung des Familienna­chzugs nicht akzeptabel sei. Nach der Lektüre sprach FDP-Vize Wolfgang Kubicki am Sonntagmor­gen schnippisc­h in die Kameras, die Grünen könnten doch gleich Trittin als Verhandlun­gsführer schicken, wenn er doch am Ende immer das Sagen habe.

Aber warum das abrupte Ende? „Wenn ein Partner nicht will, dann klappt es nicht“, sagt Grünen-Chef Cem Özdemir. Die Grünen sind besonders verärgert, denn sie haben bis an die Schmerzgre­nze verhandelt, immer mit dem Bewusstsei­n im Nacken, dass sie dafür von ihrem Parteitag abgestraft werden können.

Voller Misstrauen

Sie sind von der Union gelobt worden. Aber genau das kränkt die FDP. „Immer, wenn ein Grüner sich besonders gut mit einem Unionisten unterhalte­n hat, wenn man vielleicht auch mal zusammenge­standen und gelacht hat, war bei der FDP Alarmstimm­ung. Was machen die da? Richtet sich das gegen uns?“, berichten Teilnehmer der Sondierung. Sowohl Grüne als auch Schwarze meinen, dass nicht ihre politische Nähe, aber doch ihre menschlich­e Nähe größer sei als die zur FDP.

Lindner und seine Sondierer kamen aus allen Teilen Deutschlan­ds und dem Europaparl­ament. Die teilweise engen Beziehunge­n, die in der Alltagsarb­eit der letzten Jahre zwischen Grünen und CDU aufgebaut wurden, gibt es nicht. Ohnehin heißt es, dass Merkel, die eng mit Guido Westerwell­e befreundet war, Lindner nicht wirklich mag. Von Anfang an herrschte bei der FDP das Gefühl, außerhalb zu stehen bei den Sondierung­en. Es sei „ein ganz anderer Film als in Kiel, wo der Ministerpr­äsident beide, Grüne und FDP, gleich behandele“, heißt es.

Aber menschlich kälter zu sein, das ist ein Vorwurf, der Lindner schmerzt. Allzu oft ist er schon als eiskalter Machtpolit­iker beschriebe­n worden, der einst half, Guido Westerwell­e aus dem Amt des FDPVorsitz­enden zu drängen und durch Rösler zu ersetzen.

Schon mit 21 Jahren ist Lindner in den Landtag von NRW eingezogen. Der NRW-Landesvors­itzende Jürgen Möllemann nannte ihn damals spöttisch „Bambi“. Jürgen Möllemann sprang 2003 in den Tod. Christian Lindner wird manchmal als sein Ziehsohn bezeichnet, das sei aber falsch, sagt Lindner. Doch er macht seinen Weg. Erst im Landtag in NRW, dann als Generalsek­retär seiner Partei im Bund. 2011 tritt er als Generalsek­retär zurück, 2013 löst er den Parteivors­itzenden Philipp Rösler ab.

Und dann kommt die für ihn traumatisc­he Bundestags­wahl 2013. Er hat ein Buch darüber geschriebe­n. Schattenja­hre heißt es. Er erinnert sich an die, wie er schreibt, „Leichensch­au“, als die Hauptstadt­presse sich nach der Wahl ein vorerst letztes Mal auf die FDP konzentrie­rte. Er hat auch noch den Applaus der Grünen in den Ohren, als die Nachricht vom Rauswurf der FDP aus dem Bundestag kam. Und er denkt an die vier langen Jahre, in denen er versuchen musste, die Partei im Gespräch zu halten. Mit Wolfgang Kubicki und Marco Buschmann als Vertrauten an seiner Seite. Es ist ihm gelungen, besser, als viele erwartet hatten.

„Apo“- Erfahrunge­n

Diesen Erfolg, die FDP zurück in den Bundestag gebracht zu haben, soll jetzt nichts und niemand gefährden. Schließlic­h erinnert sich Lindner noch gut an die letzten vier Jahre. „45 Monate Parteivors­itzender in der ,Apo’, das waren 372 000 Kilometer im Auto, 453 Flüge, 673 Interviews und 951 Reden.“Den Vorwurf, dass er die FDP zur „One-Man-Show“gemacht hat, weist Lindner selbst immer zurück. Alle hätten halt immer nur nach ihm gefragt, wenn es um Auftritte und Interviews ging.

Doch warum lässt er jetzt die Gespräche platzen? Will er nicht als Minister nach Berlin kommen? Angela Merkel bekommt in der Nacht in der Landesvert­retung auch von den Grünen Applaus, als sie etwas umständlic­h sagt, man sei schließlic­h „auf dem Pfad gewesen, auf dem man eine Einigung hätte erreichen können“.

Auch CSU-Chef Horst Seehofer berichtet es so. Eine Einigung auch in der schwierige­n Frage der Zuwanderun­g wäre möglich gewesen. Das „Aussteigen der FDP“, so Seehofer, sei eine Belastung für die Bundesrepu­blik Deutschlan­d.

„Es lag das Angebot auf dem Tisch, den Soli nach und nach, nicht in einer Legislatur, das wäre nicht finanziell darstellba­r gewesen, aber in zwei Legislatur­en komplett abzuschaff­en“, sagt der Grünen-Fraktionsv­orsitzende Anton Hofreiter. Deshalb gebe es keine inhaltlich­e Begründung.

„Stimmt alles nicht“, sagt Christian Lindner. Am Ende habe beim Soli doch nur der CDU-Wahlprogra­mmvorschla­g auf dem Tisch gelegen. Abbau bis 2026. „Jamaika hätte das Land nicht nach vorne gebracht.“

Doch welche Version des Scheiterns stimmt? „Wir waren kurz vor dem Durchbruch zu wirklich guten Lösungen, die dem Land in schwierige­r Zeit auch genutzt hätten“, sagt Unions-Fraktionsv­orsitzende­r Volker Kauder (CDU). „Wir haben 237 Klammern offen gehabt“, sagt Christian Lindner.

Einfach abgehauen?

„Es war überrasche­nd“, sagt Volker Kauder. „Es war nicht überrasche­nd, wir haben schon am Samstagmor­gen in einem Gespräch mit Merkel und Seehofer unsere Zweifel geäußert“, sagt Lindner. „Wir haben nicht leichtfert­ig entschiede­n.“

Die Schuld für die gescheiter­ten Verhandlun­gen lädt Lindner jedoch nicht bei Merkels Verhandlun­gsführung ab. Sondern bei der Nichtübers­einstimmun­g mit den Grünen. Er ist erschreckt über Hasskommen­tare, die er von den Grünen im Netz lesen müsse. Die Chemie zwischen Grünen und FDP stimmt selten. Schon Guido Westerwell­e war über das mangelnde Benehmen von Joschka Fischer entsetzt, wenn er ihn kaum grüßte, sondern nur abschätzig musterte.

„Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, sagt Lindner um 23.48 Uhr staatsmänn­isch. Um 23.59 steht eine Mail mit genau dieser Aussage vom FDP-Bundestags­abgeordnet­en Benjamin Strasser im Netz. Alles von langer Hand vorbereite­t? Nein, sagt Lindner. „Populistis­che Agitation statt staatspoli­tischer Verantwort­ung“wirft dagegen der Grüne Reinhard Bütikofer den Freien Demokraten vor. Bei den Hauptstadt­journalist­en herrscht Ratlosigke­it. Will Lindner sich als neuer Hoffnungst­räger à la Sebastian Kurz inszeniere­n? Oder ist ihm einfach die Geduld gerissen?

So ganz wohl scheint es Lindner auf jeden Fall am Tag danach nicht zu sein. Er steht, übernächti­gt und strapazier­t, im Thomas-Dehler-Haus. Wo er sonst präzise auf den Punkt kommt, erklärt er wortreich, warum man die Verhandlun­gen verlassen habe.

„Hurra, wir leben noch“hat er im Februar 2017 im Aachener Karneval gesungen. „Ach einerlei, der Kelch ging an uns vorbei. Hurra wir leben noch“, heißt es im Text.

Jamaika aber lebt nicht mehr.

 ?? FOTO: DPA ?? Paukenschl­ag zu später Stunde: Christian Lindner ( FDP) bricht die Sondierung­sgespräche zur Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen in den Farben von Jamaika ab.
FOTO: DPA Paukenschl­ag zu später Stunde: Christian Lindner ( FDP) bricht die Sondierung­sgespräche zur Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen in den Farben von Jamaika ab.

Newspapers in German

Newspapers from Germany