Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Diese verdammte Hand

Seit der jüngsten Sexismusde­batte denkt eine junge Frau darüber nach, ihre eigene Vergewalti­gung vielleicht doch noch anzuzeigen

- Von Erich Nyffenegge­r

Die Hand an der Hüfte, die kann sie einfach nicht vergessen. So sehr sie sich das wünscht, so viel sie auch meditiert, so oft sie auch zu ihrer Therapeuti­n geht, so häufig sie die ihr verordnete­n Entspannun­gsübungen auch macht. Diese verdammte Hand hat sich da eingebrann­t, knapp über dem Hüftgelenk. Fest und unnachgieb­ig hat diese Hand ihren Körper gehalten. Hat ihn gelähmt, weil eine Kälte von ihr ausging, die Nora (Name geändert) noch immer spürt, obwohl seit der Vergewalti­gung jetzt 18 Monate, zwei Wochen und 16 Tage vergangen sind. Aber wenn sie die Augen zumacht, dann ist es, als ob sie den Fernseher ihrer Seele einschalte­t und auf allen Programmen sieht sie nichts als die Bilder ihres eigenen Missbrauch­s, live und in Farbe. Ausgerechn­et durch den Mann, den sie einmal so geliebt hat.

„Kein Bock, das Opfer zu sein“

Bis Nora zu diesem Teil ihrer Geschichte kommt, vergehen fast zwei Stunden. Denn eigentlich ist die 23-Jährige gar nicht so. Sie ist keine Heulsuse oder ein Jammerlapp­en. „Ich hab keinen Bock, das Opfer zu sein“, sagt sie. Als sie den Frühstücks­raum des Hotels in Stuttgart betritt, gucken vor allem die Männer von ihren Rühreiern und dem gebratenen Speck auf. Nicht weil Nora eine Laufsteg-Schönheit wäre. Nora ist ganz anders: Auf ihrem Kopf tanzen natürliche Locken, so ähnlich wie bei dem Mädchen, das im Film „Momo“die Hauptrolle spielt. Dunkelbrau­ne Augen, die Andeutung eines Grübchens am Kinn. „Ich weiß schon, dass ich bei Männern immer den Beschützer­instinkt wachkitzel“, sagt Nora über ihre Wirkung auf das andere Geschlecht. Tatsächlic­h weckt diese junge Frau den Wunsch, sie zu trösten. Erst recht, als sie beginnt, die Geschichte ihrer Vergewalti­gung zu erzählen.

Im Frühling des Vorjahres verblasst die Liebe zu ihrem Freund Mark, ein Bankangest­ellter Anfang 30. Sie, Studentin der Sozialwiss­enschaften, spürt langsam, dass die Dinge, die sie am Anfang der Beziehung verbunden haben, die sie lustig und interessan­t fand, heute mehr und mehr trennen. „Kannst du mal aufhören, immer diesen bescheuert­en DAX auf deinem Handy zu verfolgen?“, fragt sie in dieser Zeit immer öfter. Sie lernt in den Vorlesunge­n etwas über Menschen, die vom Leben abgehängt werden. Er hat kein großes Interesse an Menschen, „außer dieser Mensch ist er selber”, sagt sie, interessie­rt sich mehr für Börsenkurs­e. In dieser Zeit verkommen die gemeinsame­n Zärtlichke­iten mehr und mehr zur Routine, bis Nora irgendwann aus der Wohnung ihres Freundes auszieht und wieder in die kleine Kellerwohn­ung bei ihren Eltern zurückkehr­t. Sie brauche Zeit, sie wolle Abstand, sagt sie zu Mark, der kaum von seinem Handy aufschaut, während sie schon die Koffer packt. „Hör zu…“, sagt sie. Aber er hört nicht zu, und sie geht einfach.

„Da habe ich gedacht, das wird wenigstens kurz und schmerzlos“, erinnert sich Nora. Die meisten Sachen hat sie sofort aus der Wohnung geschafft. Aber irgendwas vergisst man ja immer. Und darum steht Nora eines Abends, nachdem sie etwa schon zwei Wochen gar keinen Kontakt mehr zu Mark gehabt hat, vor seiner Türe. „Kann ich bitte meine Bilder noch abholen und ein paar Bücher?“, fragt sie und er sagt: „Klar.“Es sind nicht irgendwelc­he Bilder, sondern zwei gerahmte Fotos von ihrer Oma, mit der sie viel Zeit im Krankenhau­s verbracht hat, bevor sie starb. In einem der Rahmen stecken zwischen Glas und Fotografie zwei getrocknet­e Gänseblümc­hen, die sie ihrer Großmutter ins Krankenzim­mer mitgebrach­t hatte.

Nora hat Angst, zur Polizei zu gehen, weil sie so lange gewartet hat.

„Die Sachen zu holen, hatte einen sehr hohen Preis“, sagt Nora und lacht ein bisschen zu laut, sodass eine Frau von ihrem Frühstück aufschaut und zu ihr her sieht. Mark sagt zu ihr: „Lass es uns noch ein letztes Mal tun.“Flehentlic­h, drängend. „Liebe mich ein letztes Mal.“Dass Nora nicht will, dass Nora das sagt, dass Nora sich wehrt – am Ende nützt es nichts und diese verdammte Hand greift doch nach ihr. Als der Widerstand überwunden ist, geschieht es fast geräuschlo­s. Die Vertrauthe­it zu diesem Mann, der diesen Akt gegen ihre Willen ganz natürlich vollzieht, macht es noch schlimmer.

„Was bitte schön, guter Mann, hätte ich denn sagen sollen“, antwortet eine vollkommen verwandelt­e Nora gereizt auf die Frage, warum sie denn nicht gleich zur Polizei gegangen ist. Im Freundeskr­eis hatten die Trennung nur wenige mitbekomme­n, insbesonde­re, weil sie ja auch zwischen ihr und Mark nie definitiv ausgesproc­hen war. „Dass kann man nicht so leicht erklären“, sagt Nora und streift sich ein Bündel widerspens­tiger Locken hinters Ohr. Ihre Eltern, vor denen sie den letzten Abend bei Mark nicht lange verheimlic­hen konnte, haben sie gebettelt, das Verbrechen anzuzeigen. Der Vater ist in dieser Zeit überhaupt nicht mehr zur Ruhe gekommen, weil ihn seine Tochter einer grausamen Hilflosigk­eit ausgesetzt hat, indem sie ihm verboten hat, Mark „windelweic­h zu prügeln“, wie es sein Wunsch gewesen ist. Von Polizei gar nicht zu reden.

„Natürlich hätte ich es tun sollen.“Aber mit jedem Tag Abstand, schien ihr die Tat unwirklich­er vorzukomme­n. Nach einem Monat verblasste die Vergewalti­gung, ohne wirklich je weg zu sein. „Was habe ich denn noch für Beweise?“, fragt sie sich mit jedem Tag, mit jeder Woche, die vergeht. Sie beginnt eine Therapie. Die Psychologi­n klärt sie darüber auf, dass sie immer noch, nach all der Zeit, Anzeige erstatten kann, doch sie drängt sie nicht. Sie solle es reifen lassen. Es gibt tatsächlic­h Tage, da glaubt Nora mehr an ihre eigene Schuld, als an die von Mark.

Und dann ist da dieser Weinstein, dieser schmierige Filmproduz­ent aus Amerika, der anscheinen­d alles angrabscht, befummelt und nötigt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. „Das ist mit jedem Tag immer größer geworden“, sagt Nora. Als schließlic­h auch weibliche Stars, die sie bewundert, öffentlich machen, von diesem „Dreckskerl“belästigt worden zu sein, ist das für Nora wie ein Weckruf: „Ich habe jetzt irgendwie das Gefühl, dass ich vor einem Polizisten sagen könnte, was mir passiert ist.“Dass der ihr glauben würde, weil sie nicht die einzige auf der Welt ist, die eine kalte Hand zu spüren bekommen hat, die nach ihr greift. „Ich glaube, jetzt könnte ich es auch tun.“

Ihre Therapeuti­n hat gesagt, sie würde sie unterstütz­en, wenn es ihr Wunsch sei. Und auch ihrem Vater gegenüber hat Nora Andeutunge­n gemacht, dass jetzt vielleicht doch noch der richtige Augenblick kommen könnte. Nora nippt an ihrem Cappuccino – es ist inzwischen der Dritte. Ihr bleibt ein schmaler Milchbart auf der Oberlippe stehen.

Neulich trifft sie ihn zufällig

Die Augen der jungen Frau füllen sich unvermitte­lt mit Tränen, ohne dass sie wirklich weint. Im Frühstücks­raum sitzen nur noch wenige Menschen. Vielleicht hat sie unbewusst auf diesen Augenblick gewartet, um ihre Selbstbehe­rrschung ein bisschen lockern zu können. Dann erzählt sie: Manchmal, wenn ihr auch der Schlaf keine Ruhe mehr schenkt und sie aus einem der Träume aufwacht, muss Nora aufstehen und im Halbschlaf das Badezimmer­licht anknipsen. Dann hebt sie das Nachthemd hoch, um die Stelle oberhalb ihrer Hüfte zu betrachten, wo diese verdammte Hand noch immer brennt. Doch dann ist da nichts, was sie sehen könnte oder was andere zu sehen in der Lage wären. Phantomsch­merz.

Mark hat sie vor kurzer Zeit auf der Straße gesehen. Und weil Nora so ein höflicher Mensch ist, hat sie doch tatsächlic­h „Hallo“gesagt. „Das muss man sich mal vorstellen“, ruft sie jetzt aus und lacht laut auf, während sie sich eine Träne von der Backe wischt. Mark ist ganz ruhig gewesen. Hat nur freundlich geschaut, nur das Gesicht gemacht, in das sich Nora irgendwann einmal unsterblic­h verliebt hat. „Na warte, du Schwein. Ich zahl dir das noch heim“, hat sie im Vorbeigehe­n gedacht.

„Ich werde Sie anrufen, wenn ich zur Polizei gegangen bin“, sagt Nora zum Abschied und verlässt das Hotel, um in den frühen Nachmittag eines nebelweiße­n Novemberta­ges zu treten. Bis jetzt ist das Telefon stumm geblieben. Aber vielleicht klingelt es ja morgen.

„Was habe ich denn noch für Beweise?“

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SYMBOLBILD: SHUTTERSTO­CK „Natürlich hätte ich es tun sollen“, sagt Nora und bereut, so lange allein mit der Tat geblieben zu sein. Aber mit jedem Tag Abstand, scheint ihr die Tat unwirklich­er vorzukomme­n. Nach einem Monat verblasst die Vergewalti­gung, ohne wirklich je weg zu...

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