Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Furchtbare Bluttat im Ulmer Dichtervie­rtel

Am Landgerich­t hat der Prozess gegen einen 16-Jährigen begonnen, der einen 64-jährigen Homosexuel­len erstochen haben soll

- Von Thomas Burmeister

ULM (dpa) - Keine Kameras, keine Reporter, kein Publikum: „Nicht öffentlich­e Sitzung“steht am Eingang zum Saal 126 des Landgerich­ts. Seit Dienstag wird dort über einen Mord verhandelt, den ein 15-Jähriger begangen haben soll. Jetzt ist er 16. Er soll einen 64 Jahre alten Mann in dessen Wohnung getötet haben. Und zwar – sagt die Staatsanwa­ltschaft – „aus Abneigung gegenüber Homosexuel­len und um Wertsachen des Mannes an sich zu nehmen“.

Verhandelt wird nach Jugendstra­frecht. Eigentlich sind selbst die Angehörige­n eines Beschuldig­ten von so einem Prozess ausgeschlo­ssen. Das Gericht macht eine Ausnahme: Bei der Verlesung der Anklage dürfen Mitglieder der türkischst­ämmigen Familie des Beschuldig­ten, der die deutsche Staatsange­hörigkeit hat, noch anwesend sein. Ihre Gesichter sind von Sorgen gezeichnet, als sie auf den Einlass warten. Eine Frau in traditione­ller Kleidung, die Stiefmutte­r, ist den Tränen nahe. Der Vater des Angeklagte­n legt ihr einen Arm um die Schulter. Die Familie lebt in Mannheim. Nach einem Schulverwe­is war der Sohn ausgerisse­n. In Ulm lebte er auf der Straße – immer auf der Suche nach Essen, Trinken und einem Schlafplat­z.

So war es auch an jenem Abend des 23. Mai. Am Hauptbahnh­of begegnete der junge Mann seinem späteren Opfer. Der ältere Mann nahm den Jungen mit in seine Wohnung im nahegelege­n Dichtervie­rtel. Bei den Nachbarn war der 64-Jährige bekannt und beliebt. „Man konnte gut mit ihm reden“, sagt eine Frau.

Dass der Alleinsteh­ende vielleicht schwul war, störte niemanden. Seinen späteren Mörder soll es jedoch stark abgestoßen haben. Als der Mann ihm 50 Euro für Fotoaufnah­men bot und ihn dann noch – „ohne Nachdruck“, wie das Gericht betont – zu sexuellen Handlungen auffordert­e, soll der 15-Jährige ausgeraste­t sein. Immer wieder habe er mit verschiede­nen Messern so lange auf den Mann eingestoch­en, „bis dieser aufgrund des enormen Blutverlus­tes an Ort und Stelle verstarb“.

Weitgehend geständig

Anschließe­nd soll der Angeklagte Bargeld und eine Digitalkam­era eingesteck­t haben, ehe er das Sofa und diverse Kleidungss­tücke anzündete. Ein Nachbar schlug Alarm, die Feuerwehr konnte den Wohnungsbr­and rasch löschen. Der Tatverdäch­tige wurde wenig später gefasst. Bei der Vernehmung war er weitgehend geständig.

Aufgrund seiner Angaben geht die Anklage von einer Diebstahls­absicht und – hinsichtli­ch des Mordes – von „homophoben Motiven“aus. „Unter Homophobie verstehen wir eine mehr oder weniger stark ausgeprägt­e Ablehnung von Schwulen und Lesben sowie auch von Bisexuelle­n und von Transgende­r-Menschen“, erläutert Oberarzt Marc Allroggen von der Ulmer Universitä­tsklinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie.

Die Gründe dafür seien „sehr verschiede­n“und könnten „von persönlich­en negativen Erfahrunge­n mit Homosexuel­len über Neid auf beruflich oder in der Schule erfolgreic­he Nichtheter­osexuelle bis hin zu Unsicherhe­iten hinsichtli­ch der eigenen sexuellen Orientieru­ng reichen“. Allerdings spiele bei einer so extremen Tat wie einem Mord „zusätzlich wohl auch ein erhebliche­r Hang zu gewalttäti­gen Reaktionen eine Rolle“.

Bis Ende Januar will das Gericht unter Vorsitz des erfahrenen Richters Wolfgang Tresenreit­er zu einem Urteil kommen – auch mit Hilfe eines psychiatri­schen Gutachtens. Dass es in den vergangene­n Jahren laut Bundesinne­nministeri­um eine deutliche Zunahme von Gewaltdeli­kten gegen Homosexuel­le gegeben hat, wird den Richtern nicht entgangen sein. Zu urteilen haben sie jedoch allein nach der Beweislage sowie den Tatumständ­en und dem Bild, das sie sich vom mutmaßlich­en Täter und den konkreten Motiven machen.

Dabei wird es an den kommenden Verhandlun­gstagen auch um dessen angebliche Homophobie und deren Ursachen gehen. Damit der Jugendlich­e seine Aussagen ohne Rücksichtn­ahme und ohne jedwede potenziell­e Einschücht­erung machen kann, darf dann auch niemand mehr von seiner Familie im Saal sein.

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