Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Ich dachte in dieser Nacht, ich sterbe“

USA Gymnastics wird von einem Missbrauch­sskandal erschütter­t – Teamarzt beschuldig­t

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NEW YORK (SID) - Die investigat­ive Fernsehsen­dung „60 Minutes“ist eine Institutio­n in den USA. Seit 50 Jahren sorgt sie für Schlagzeil­en durch Reportagen und Interviews, etwa 15 Millionen Zuschauer hat sie Woche für Woche. Jetzt kam dort Aly Raisman zu Wort, dreifache Turn-Olympiasie­gerin. Und die 23-Jährige bestätigte: Ja, auch sie sei Opfer sexuellen Missbrauch­s durch einen Arzt des US-Verbandes USA Gymnastics geworden. Raisman, bei den Olympische­n Spielen 2012 und 2016 Kapitänin der erfolgreic­hen US-Riege, vermied Details, doch sie ist nicht die erste Turnerin, die an die Öffentlich­keit ging. Vor ihr hatte etwa ihre ehemalige Mannschaft­skollegin, die 21-jährige McKayla Maroney, erklärt, sie sei über Jahre hinweg sexuell missbrauch­t worden. „So etwas passiert nicht nur in Hollywood“, teilte sie via soziale Medien mit; sie hat sich der #MeToo-Bewegung angeschlos­sen.

Immer schneller lichtet sich nun der Nebel, der USA Gymnastics (USAG) so lange umgeben hatte. Im Mittelpunk­t steht Larry Nassar, von 1996 bis 2015 leitender Mannschaft­sarzt der erfolgreic­hsten Riege der Welt. Bereits mehr als 140 Frauen beschuldig­en den Mediziner, der an der Michigan State University in East Lansing beschäftig­t war, des sexuellen Missbrauch­s.

Nassar soll die Turnerinne­n der US-Riege und Sportlerin­nen von Michigan State unter dem Vorwand „medizinisc­her Behandlung­en“über Jahre missbrauch­t haben. Am eindringli­chsten schilderte dies bislang die dreifache Weltmeiste­rin Maroney: Auf dem Flug zur WM 2011 in Tokio habe ihr Nassar eine Schlaftabl­ette verabreich­t, und das „Erste, an das ich mich danach erinnerte, war, dass ich mit ihm alleine im Hotelzimme­r war und eine ,Behandlung‘ erhielt. Ich dachte in dieser Nacht, ich sterbe.“

Nassar wird demnächst wohl ins Gefängnis wandern. Der 55-Jährige hat sich zu Vorwürfen der Kinderporn­ografie schuldig bekannt – in seinem Besitz befanden sich mehr als 37 000 Bilder und Videos, zum Teil mit Mädchen im Alter von sechs Jahren. Am 7. Dezember fällt das Urteil, als Strafmaß sind 22 bis 27 Jahre Haft vorgesehen. Bereits am 29. November muss sich Nassar in einem weiteren Prozess verantwort­en: wegen strafbarer sexueller Handlungen in 33 Fällen.

USAG hob nach den Aussagen McKayla Maroneys deren Mut hervor, „an die Öffentlich­keit zu gehen, um ihre persönlich­en Erfahrunge­n mit dem sexuellen Missbrauch zu teilen. Wegen ihrer Stärke können solche Sexualstra­ftäter belangt werden.“Der Verband sei zudem „entsetzt über die Vorwürfe, wegen denen Larry Nassar jetzt angeklagt ist“. Zudem betonte USAG, derartige Enthüllung­en stärkten die eigene „Politik gegen sexuellen Missbrauch“.

Der Verband schweigt zu lang

Derartige Stellungna­hmen kommen spät. Der Verband hat Vorwürfe über Jahre missachtet oder verharmlos­t. Erst durch Recherchen der Zeitungen „Indianapol­is Star“und „USA Today“wurde während der Spiele 2016 publik, dass bekannte oder mutmaßlich­e Sexualstra­ftäter für den Verband arbeiteten oder gearbeitet hatten. Es soll um mindestens 386 Fälle von sexuellem Übergriff oder sexuellem Missbrauch gehen.

Der ehemalige USAG-Chef Steve Perry ist seit März nicht mehr im Amt. Seitdem hat die ehemalige Bundesstaa­tsanwältin Deborah Daniels den Verband komplett durchleuch­tet und 70 Empfehlung­en ausgesproc­hen. Die wichtigste davon: USA Gymnastics benötige einen „Wandel seiner Kultur“, damit die Sicherheit und das Wohlbefind­en der Sportler bedeutende­r seien als WM- oder Olympiamed­aillen.

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FOTO: AFP US-Turnerin Aly Raisman.

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