Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Ohne Gottvertra­uen hätte ich nicht überlebt“

Katharina „Kathi“Dieing erzählt aus dem „Schatz“schwerer Lebenserfa­hrung

- Von Walter Schmid

ISNY - „Es kommt mir heute wie ein Wunder vor, dass ich 90 Jahre alt werden durfte – und immer noch einigermaß­en selbständi­g zu Hause leben kann“, erzählt Katharina „Kathi“Dieing. „Wer keinen Glauben hat, in dem er Halt findet, der fällt bald hinten hinab.“Gottvertra­uen sei wohl das Geheimnis dafür, dass ein Mensch auch das Schwere ertragen und durchstehe­n könne.

Heute, an ihrem 90. Geburtstag, müssen zunächst alle Lebenserfa­hrungen zurücktret­en: „Da zählt die Dankbarkei­t, weil es mir immer noch gut geht, meine Beine mich tragen und der Kopf auch noch mitmacht.“Die Söhne, Wolfgang und Hubert, haben das „Fischerstü­ble“im Terrassenh­otel reserviert. Dort wird mit der Familie und Freunden bei Kaffee und Kuchen gefeiert – die Mutter im Mittelpunk­t.

Sibylle Lenz besucht die Jubilarin in Vertretung des Bürgermeis­ters und überbringt Glückwünsc­he der Stadt, Blumen und fair gehandelte­m Honig, und die Urkunde mit Segenswüns­chen des Ministerpr­äsidenten Winfried Kretschman­n.

Wenn Kathi Dieing vom Schweren TRAUERANZE­IGEN in ihrem Leben berichtet, meint sie vor allem die Deportatio­n der Volksdeuts­chen aus dem Dorf Tirol, südlich der rumänische­n Stadt Temeswar, in ein Arbeitslag­er der Bergwerksr­egion im Donbas-Becken in der heutigen Ostukraine. Das war im Januar 1945 und Kathi gerade 17 Jahre alt: „Am 14. Januar, es war ein Sonntag, wurden alle Männer des Dorfes im Alter von 15 bis 45 Jahren und die Frauen von 18 bis 33 Jahren durch den Gemeindetr­ommler aufgeforde­rt, sich auf einem Platz zu melden und in Listen einzutrage­n. Am Bahnhof standen die Viehwaggon­s, notdürftig mit Stroh und Pritschen ausgestatt­et.“Die 90-Jährige erinnert sich ganz genau.

Vor der Abfahrt habe sie einigen Dorfbewohn­ern etwas zu essen gebracht. „Weil der Waggon nicht voll war, hat man mich gezwungen aufzusteig­en, obwohl ich noch gar nicht 18 war.“Was sie nach dreiwöchig­er Reise an lebensfein­dlichen Erfahrunge­n erlebten, Barackenla­ger, Fußmärsche ins Bergwerk, Hunger und Krankheite­n, sei schlimm gewesen: „Im Rückblick betrachtet, hätte man dort nicht einmal sterben wollen.“

Infrastruk­tur für die zivilen Interniert­en habe es nicht gegeben: „Selbst Kriegsgefa­ngenen ging es besser als uns.“Sohn Wolfgang fügt hinzu: „Die Kollateral­schäden der zivilen Kriegsopfe­r wurden erst durch das Genfer DRK-Abkommen von 1949 abgedeckt.“Die Mutter betont: „Die Bevölkerun­g dort hatte zwar Mitleid mit den Zwangsarbe­itern, aber die hungerten wegen Plünderung­en und Verwüstung­en der deutschen Soldaten selbst. Täglich ausgehunge­rt und geschwächt, eine Stunde Fußmarsch zum Bergwerk und abends wieder zurück – ich habe gebetet, dass ich nicht auf der Strecke liegen bleibe und nachts von den Hunden geholt werde. – Der Herrgott hat geholfen – man weiß nicht wie.“

Nach etwa einem Jahr sei den nicht mehr arbeitsfäh­igen Deportiert­en versproche­n worden, dass sie in Waggons zurück in ihre Heimat verfrachte­t würden. „Ich war dabei, noch 18-jährig, aber man hat uns nicht in der Heimat, sondern in Hoyerswerd­a in einem Übergangsl­ager abgeladen.“1947 sei ihr mit Leidensgen­ossen die Flucht aus der sowjetisch­en Besatzungs­zone nach Bayern gelungen.

Sie hätten Aufnahme gefunden in einem Flüchtling­slager bei München. Irgendwann sei ein Bauer gekommen auf der Suche nach Hilfskräft­en. Weil sie von Kindheit an die landwirtsc­haftliche Arbeit gewohnt war, ging sie mit. Dann sei’s langsam aufwärts gegangen. Ein Landsmann habe Beziehunge­n nach Großholzle­ute gehabt und versproche­n, es gebe dort Arbeit und gute Menschen. „Ich folgte dem Ratschlag, reiste nach Großholzle­ute, fand Arbeit im Riedhof und im Adler – und heiratete 1959 den Sohn des Bäckers“, erzählt Kathi Dieing. Sie lächelt. Zwei Söhne wurden dem Ehepaar geboren, Wolfgang und Hubert, mit viel Eigenleist­ung bauten sie in Isny ein Haus.

Kathi Dieing hat über Jahre ihren Ehemann bis zu dessen Tod gepflegt. Immer noch kann sie mithilfe ihrer Söhne in ihrer Wohnung leben und vieles selbst erledigen. Aber immer wieder, unvermeidl­ich, komme das russische Arbeitslag­er in den Kopf: „Man muss die Leute in der Umgebung dort loben, denn die hatten wenigstens Erbarmen mit uns, obwohl die deutschen Soldaten bei ihnen ganz barbarisch gehaust haben.“

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FOTO: WS Wolfgang, Kathi und Hubert Dieing mit Sibylle Lenz (2. v. l.).

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