Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Ein deutliches politische­s Signal aus der Türkei

Freilassun­g der Ulmerin Mesale Tolu unter Auflagen wird als Zeichen der Hoffnung gewertet

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Schon kurz nach Beginn des zweiten Tages im Prozess gegen Mesale Tolu am Montag haben viele im Gerichtssa­al das Gefühl, dass die Verteidigu­ngsreden vor dem Richter und die Aussagen der Angeklagte­n nur noch Formsache sind. Denn gleich zum Auftakt der Sitzung im Justizpala­st im Istanbuler Stadtteil Caglayan hatte der Staatsanwa­lt das Wort ergriffen – und die Freilassun­g aller Angeklagte­n beantragt.

Nachdem die Journalist­in aus Ulm und fünf andere Beschuldig­te auf Betreiben der Anklage wegen Terrorverd­achts den größten Teil des Jahres in Haft zugebracht haben, stimmt das Gericht dem Antrag auf Freilassun­g zu – es ist zugleich ein deutliches politische­s Signal. „Ich hatte den Eindruck, dass das Urteil schon feststand“, sagt die zum ToluProzes­s nach Istanbul gereiste Bundestags­abgeordnet­e der Linken, Heike Hänsel (Tübingen).

Verwirrung auf der Polizeiwac­he

Als der Beschluss verkündet wird, fallen sich Tolu und ihre Mitangekla­gten in die Arme, auf dem Flur vor dem Gerichtssa­al brandet Beifall auf. Tolu wird zum Frauengefä­ngnis im Stadtteil Bakirköy gebracht, um die Entlassung­sformalitä­ten zu erledigen. Nach den Auflagen des Gerichts darf Tolu die Türkei nicht verlassen und muss sich für die Dauer des Verfahrens jeden Montag bei der Polizei melden. Doch die Freilassun­g am Montag zog sich hin. Tolu wurde auf einer Polizeista­tion festgehalt­en. Die Anti-Terror-Einheit der Polizei habe Tolus Abschiebun­g angeordnet, sagte Anwältin Gülhan Kaya. Zuvor hatte das Gericht allerdings das Ausreiseve­rbot bis zu einem Urteil in dem Verfahren gegen die Deutsche verhängt.

Die widersprüc­hlichen Angaben sorgten für Verwirrung auf der Wache, ehe Tolu am Abend gehen durfte.

Der Prozess geht am 26. April weiter, doch mit einem Urteil ist erst im Sommer zu rechnen, sagte Tolus Anwalt Keles Öztürk der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Es müssen noch Zeugen gehört und Beweismitt­el ausgewerte­t werden – das dauert.“Die Vorwürfe gegen die 33-Jährige, die in Istanbul für die linke Nachrichte­nagentur Etha arbeitete, seien juristisch nicht haltbar, sagte Öztürk. Die Anklagesch­rift, die Tolu und den anderen die Unterstütz­ung für eine linke Terrorgrup­pe vorwirft, sei „inhaltslee­r“.

Das glaubt auch Tolus Vater Ali Riza Tolu, der sich seit Monaten in der Türkei für seine Tochter einsetzt. Nun freut er sich darauf, Mesale einen „dicken Kuss“zu geben und mit der Familie zusammen zu feiern. Tolus ebenfalls angeklagte Ehemann Suat Corlu war bereits im November freigekomm­en.

Mesale Tolu war am 30. April von einer Antiterror-Einheit der Istanbuler Polizei festgenomm­en worden; Mitte Mai kam sie in Untersuchu­ngshaft. Dass sie nun plötzlich und trotz der Haftandroh­ung von bis zu 15 Jahren auf freien Fuß gesetzt wird, lässt an den Fall Peter Steudtner denken: Der Menschenre­chtler war nach Monaten der Haft im Oktober freigelass­en worden. Die jähen Kursänderu­ngen der Anklage in beiden Fällen lassen Beobachter auf politische Motive schließen. „Das ist ein positives Signal nach Berlin“, sagte Hänsel. Dennoch spricht sie von einer „Freilassun­g zweiter Klasse“für Tolu, weil das Verfahren gegen sie ja weitergehe. Enthüllung­sjournalis­t Günter Wallraff sieht politische Motive. „Ich werde den Eindruck nicht los, dass das Ganze vorher beschlosse­n war“, sagt er. Es handele sich um einen „Schauproze­ss, aber mit positivem Ende“.

Die Bundesregi­erung in Berlin ist zuversicht­lich: „Das sind nicht nur gute Nachrichte­n, sondern das ist auch eine immense Erleichter­ung“, erklärte Außenminis­ter Sigmar Gabriel. „Damit ist das Verfahren noch nicht beendet, aber ein erster, großer Schritt ist damit gemacht.“Der deutsche Botschafte­r in der Türkei, Martin Erdmann richtet den Blick auch auf andere Bundesbürg­er, die noch in türkischer Haft sind. „Auch die müssen freikommen“, fordert er.

Nach Steudtner und Tolu ist jetzt Deniz Yücel an der Reihe, will Erdmann damit sagen. Der Korrespond­ent der „Welt“sitzt seit Februar in Haft, ohne dass es eine Anklagesch­rift oder einen Termin für ein Gerichtsve­rfahren gäbe. Kürzlich durfte Yücel im Gefängnis von Silivri vor den Toren Istanbuls immerhin die Einzelzell­e verlassen; seitdem kann er beim Hofrundgan­g mit einem ebenfalls inhaftiert­en türkischen Journalist­en reden. Für das Auswärtige Amt in Berlin ist das Schicksal des „Welt“-Reporter eine Priorität. „Weiterhin sind Deutsche wie Deniz Yücel unter haarsträub­enden Vorwürfen in türkischer Haft,“verlautet aus dem Ministeriu­m. „Wir setzen uns weiter für sie ein.“

Bei Yücel liegt der Fall jedoch anders als bei Steudtner und Tolu. Zum einen hat Yücel neben dem deutschen auch den türkischen Pass. Zum anderen ist der Reporter von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan als feindliche­r Agent und Terrorist bezeichnet worden. Yücel werde nicht nach Deutschlan­d abgeschobe­n, solange er im Amt sei, hatte Erdogan gesagt. Die türkische Seite soll einen Austausch Yücels gegen ErdoganGeg­ner in Deutschlan­d angeregt haben, was Berlin zurückgewi­esen habe. Am Montag aber überwog die Erleichter­ung nach der Freilassun­g von Tolu. Angesichts der Zerwürfnis­se zwischen Deutschlan­d und der Türkei sei die Korrektur von Unrecht Grund zum Jubeln: „Man freut sich ja schon über was Normales“, sagte Hänsel.

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FOTO: AFP In Freiheit: Die Ulmerin Mesale Tolu nach der Entlassung aus türkischer Haft in der Kanzlei ihrer Anwältin.

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