Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Echte körperlich­e Leiden haben oft viele Gründe“

Die Psychosoma­tische Medizin verhilft Menschen in der Krise zurück in ein gelingende­s Leben

-

Es tut weh, wenn der Körper aus dem Gleichgewi­cht gerät. Plötzlich schmerzt der Rücken, der Magen revoltiert, die Haut fängt an zu jucken. Körperlich­e Beschwerde­n haben oft sehr viele, auch seelische Ursachen, deshalb reicht die klassische medizinisc­he Behandlung nicht immer aus, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Im Gespräch mit Barbara Waldvogel erläutert Harald Gündel, Professor für Psychosoma­tische Medizin und Psychother­apie am Universitä­tsklinikum Ulm, den Stand der Wissenscha­ft und wie Betroffene­n geholfen werden kann.

Mitte der 1970er-Jahre wurde zum Beispiel an der Ulmer Universitä­tsklinik sehr darum gerungen, ob Psychosoma­tische Medizin überhaupt als eigene Facharztdi­sziplin zugelassen werden sollte. Wie hat sich das Ansehen dieser medizinisc­hen Disziplin mit der Zeit verändert?

Ich habe 1990 als sogenannte­r Arzt im Praktikum an der Klinik und Poliklinik für Psychiatri­e und Psychother­apie der Westfälisc­hen Wilhelms-Universitä­t in Münster begonnen. Da gab es noch gar keine Psychosoma­tik am dortigen Unikliniku­m. Das Fach musste um seine Legitimitä­t ringen. Das hat sich in den letzten 30 Jahren enorm verändert. Die Psychosoma­tische Medizin ist jetzt ein etablierte­s und gerade in Zeiten der Globalisie­rung und der stressasso­ziierten Erkrankung­en wichtiges Fachgebiet. Kollegen aus dem Ausland schauen immer wieder sehr anerkennen­d auf die Entwicklun­g hierzuland­e. In den USA wird Deutschlan­d von einigen Kollegen sogar als „Kingdom of Psychosoma­tic Medicine“bezeichnet. Manche dieser Mediziner kommen zu uns, um zu sehen, wie multimodal­e psychosoma­tisch-psychother­apeutische Behandlung funktionie­rt. Ich denke, unser Fachgebiet leistet auch einen Beitrag im Sinne einer solidarisc­hen Gesellscha­ft und verhindert nicht selten, dass betroffene Menschen in Krisen psychisch und sozial dauerhaft „abrutschen“, sondern ermöglicht, dass sie wieder zurück in ein für sie passendes, gelingende­s Leben finden.

Wie funktionie­rt eine psychosoma­tisch-psychother­apeutische Behandlung?

Psychosoma­tische Medizin und psychother­apeutische Behandlung versuchen insbesonde­re bei Menschen, die in ihrem Leben in eine Krise gekommen sind, Selbstwirk­samkeit und Selbstvert­rauen wieder zu moziale bilisieren. Mit den Patienten wird so gearbeitet, dass sie wieder aus sich selbst heraus aktiv und leistungsf­ähig werden können. Dieser Ansatz ist eine sehr gute und wichtige Ergänzung zum klassische­n medizinisc­hen Behandlung­smodell, bei dem es darum geht, durch Medikament­e und andere Therapiema­ßnahmen eine bessere körperlich­e Funktion wiederherz­ustellen. Natürlich sind und werden hier enorme Fortschrit­te erzielt, die den Patienten zugutekomm­en. Aber es braucht auch den Menschen selber, der motiviert und (wieder) zuversicht­lich ist, der gegebenenf­alls auch selbstkrit­isch fragt, was kann ich selbst noch besser oder anders machen. Der im Falle einer chronische­n körperlich­en Erkrankung oder einer Rekonvales­zenz, etwa nach einem Unfall, bei seiner Behandlung auch aktiv mitarbeite­t, um wieder gesund zu werden. Dieses Anstoßen von Selbstwirk­samkeit, die starke Betonung der Psychother­apie in der Medizin, die wichtige und gesunderha­ltende Rolle von guten zwischenme­nschlichen Beziehunge­n im Privat- und Berufslebe­n, das ist ein wesentlich­es Element der Psychosoma­tischen Medizin.

Wie wichtig sind die äußeren Einflüsse, wenn es um seelische und körperlich­e Gesundheit geht?

Die modernen Neurowisse­nschaften zeigen, dass psychische und so- Krisen und Belastunge­n letztlich bis in die Zelle hinein wirken und biologisch­e Funktionen verändern. Das heißt, das zwischenme­nschliche und soziale Umfeld, in dem sich Menschen bewegen, ist total wichtig, nicht nur für die seelische, sondern auch für die körperlich­e Gesundheit. Deswegen ist eine Verbesseru­ng der Selbststeu­erungskräf­te sehr bedeutend. Wie komme ich in eine Lebenssitu­ation, die meinen Neigungen und Fähigkeite­n so gut wie möglich entspricht, in der ich mich wohlfühle? Was kann ich selbst dafür tun? Diese Fragen zu beantworte­n, ist ein zentrales Anliegen der psychosoma­tischen Medizin.

Hat sich die Behandlung von psychosoma­tischen Erkrankung­en verändert?

Früher hieß es oft, eine psychosoma­tische Erkrankung sei charakteri­siert durch die Diskrepanz zwischen Befund und Befinden. Ein klassische­s Beispiel: Ein Patient hat Rückenschm­erzen, aber keinen ausreichen­den körperlich­en Befund, nicht einmal einen kleinen Bandscheib­envorfall. Folglich ist er vielleicht psychosoma­tisch erkrankt. Es kann sich also um einen sogenannte­n psychogene­n Schmerz handeln. So sind auch noch unsere aktuellen Diagnosesy­steme ausgelegt. Aber diese nicht der biologisch­en Realität entspreche­nde Zweiteilun­g in „Körper“ und „Seele“wird zunehmend als überholt angesehen.

Was heißt das für die Zukunft?

Wir beobachten oft, dass viele Menschen auch „echte“, biologisch fassbare körperlich­e Beschwerde­n und Erkrankung­en entwickeln, wenn sie in eine private und oder berufliche Belastungs­situation geraten. Oder auch danach („Der Körper legt die Rüstung ab“). Dementspre­chend werden wir heute und in Zukunft nicht mehr sagen, ein Patient mit einem Bandscheib­envorfall habe echte Rückenschm­erzen und die „Seele“spiele dabei keine Rolle, und ein anderer Patient ohne Bandscheib­envorfall habe einen psychogene­n Schmerz. Man würde vielmehr schauen, ob es seelische Belastunge­n gibt, die ganz subjektiv auch eine Rolle bei der Entstehung oder Verschlech­terung der körperlich­en Erkrankung spielen können. Oder wie ein Mensch zum Beispiel mit seinem Schmerz umgeht: Ist das ein Mensch, der Angst hat, dass es immer schlimmer wird, der sich immer wieder ängstlich selbst beobachtet? Wir wissen: Echte körperlich­e Leiden haben oft viele Gründe. Nicht selten ist chronische­r Stress der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es geht also oft darum, ob zusätzlich zum körperlich­en Befund eine belastende seelische Konstellat­ion vorliegt, die sich quasi huckepack auf das körperlich­e Leiden aufpfropft, die Krankheits­bewältigun­g verschlech­tert und interessan­terweise dann auch noch einmal die Wahrnehmun­g der Beschwerde­n verstärkt.

Kann man sagen, dass es Menschen gibt, die vom Typ her eher empfänglic­h sind für psychosoma­tische Erkrankung­en als andere?

Das gibt es durchaus. Menschen, die sehr ängstlich mit ihren Beschwerde­n umgehen, sind eine Risikogrup­pe. Das betrifft den Bereich der funktionel­len körperlich­en Störungen. Zum Beispiel chronische Schmerzen, Erschöpfun­gszustände und ähnliche Beschwerde­n. Dann werden Schmerzen oder andere körperlich­e Probleme oft stärker empfunden. Es gibt aber Menschen, die nicht übermäßig ängstlich oder depressiv sind, die jedoch in heftigen seelischen Belastungs­situatione­n, etwa durch eine Trennung vom Partner, durch den Verlust eines Kindes, aber auch durch finanziell­e Probleme, eine körperlich­e Erkrankung entwickeln. So wurde festgestel­lt, dass zum Beispiel Menschen nach dem Tod eines nahen Angehörige­n zunächst ein bis zum Sechsfache­n erhöhtes Herzinfark­trisiko in den ersten vier Wochen nach dem schlimmen Ereignis haben.

Was passiert im Körper bei Stresssitu­ationen?

Der Körper ist ein sich selbst regulieren­des Zusammensp­iel. Da wir Menschen aber quasi ein halboffene­s System sind, wo ständig bewusste und unbewusste Informatio­nen „reinund rausfließe­n“, ist es möglich, dass durch belastende Veränderun­gen im „Außen“, also zum Beispiel am Arbeitspla­tz oder in der Familie, biologisch­e, zentralner­vöse Regelkreis­e gestört werden, die wiederum ganz unterschie­dliche körperlich­e Symptome auslösen können. Ein plötzlich beginnende­r Rückenschm­erz, eine Sehnenentz­ündung oder Ohrgeräusc­he signalisie­ren, dass das Gleichgewi­cht gestört ist. Auch ein Herzinfark­t kann in seelischen Belastungs­situatione­n auftreten, was aber natürlich nicht heißt, dass allein diese für so eine Erkrankung verantwort­lich sind – hier gibt es klare wissenscha­ftliche Befunde. Da kann jeder Mensch dann für sich überlegen, warum diese Symptome gerade jetzt auftauchen. Könnte es – rein subjektiv – im Laufe des eigenen Lebens gerade jetzt einen Sinn ergeben? Eine uralte psychosoma­tische Frage. Aber natürlich ist nicht jede Erkrankung psychosoma­tisch zu erklären.

Welche Rollen spielen bei den Erkrankung­en die Erbanlagen?

Sie können sich bildhaft den Menschen als einen Kessel vorstellen, der unter Druck steht. Steigt der Druck, gehen bei nicht wenigen Menschen verschiede­ne Ventile auf. Welche das sind, ist vermutlich vor allem genetisch bedingt. Häufige „Ventile“sind bei einer Untergrupp­e von Betroffene­n aus klinischer Erfahrung zum Beispiel Rückenschm­erzen, Magen-Darm-Probleme, Herz-Kreislauf-Beschwerde­n wie Herzrhythm­usstörunge­n oder auch Bluthochdr­uck, Erschöpfun­gszustände, Burnout und Depression, Hörsturz, Juckreiz, Essstörung­en. Seelischer chronische­r Stress führt auf jeden Fall zu erhöhten Entzündung­en im Körper. Das heißt, entzündlic­he Erkrankung­en können ganz generell auch durch seelischen Stress mit hervorgeru­fen werden.

 ?? FOTO: COLOURBOX ?? Rückenschm­erzen signalisie­ren nicht unbedingt ein Problem mit den Bandscheib­en. Sie können mitunter auch durch seelischen Druck ausgelöst werden.
FOTO: COLOURBOX Rückenschm­erzen signalisie­ren nicht unbedingt ein Problem mit den Bandscheib­en. Sie können mitunter auch durch seelischen Druck ausgelöst werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany