Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Tod hinter Gittern
Die Justizvollzugsanstalten des Landes sind überbelegt – Die Früherkennung von suizidgefährdeten Insassen fällt dadurch schwer
RAVENSBURG - „Ich halte das hier nicht mehr aus. Sie haben es geschafft.“Das sind Ralfs letzte Worte. Nur wenige Stunden später ist der 46-Jährige tot. Verblutet. Ein Justizvollzugsbeamter findet ihn mit aufgeschnittenen Pulsadern in seiner Gefängniszelle. Die Verpackung der Einwegklingen liegt auf dem Tisch – daneben der Abschiedsbrief, fein säuberlich zusammengefaltet.
Ralf ist einer von sieben Gefangenen, die sich im Jahr 2017 in einer baden-württembergischen Justizvollzugsanstalt (JVA) das Leben genommen haben. Überdurchschnittlich hoch ist die Suizidrate in der JVA Ravensburg gewesen. Hier haben sich seit dem Sommer 2016 drei Insassen umgebracht, zuletzt im Mai 2017.
Wie sich herausstellt, hängen die Probleme in den baden-württembergischen Gefängnissen mit der Überbelegung zusammen. In sämtlichen Haftanstalten sind mehr Insassen im geschlossenen Vollzug untergebracht, als eigentlich Plätze vorhanden sind. Aus dem Justizministerium in Stuttgart heißt es, dass die Gefangenenzahlen seit Mitte 2015 stark nach oben gegangen sind. Gewachsen ist vor allem die Zahl ausländischer Gefangener. Psychische Auffälligkeiten und Verständigungsschwierigkeiten nehmen zu.
Aufwendige Betreuung
„Es liegt auf der Hand, dass infolge dieser Überbelegung weniger Zeit für die Beobachtung und Früherkennung suizidaler Tendenzen bei den Gefangenen bleibt“, erklärt Steffen Tanneberger, Sprecher im Justizministerium. Das Problem: Die Betreuung der Insassen ist aufwendig und kostet Zeit. Die Arbeit der Anstaltsmitarbeiter wird immer komplexer. Je mehr Gefangene ein Justizvollzugsbeamter überwachen muss, desto schwieriger wird es, jeden Einzelnen ausreichend im Auge zu behalten.
„Der Beschäftigte vor Ort hat plötzlich viel mehr Inhaftierte zu betreuen als früher“, sagt Alexander Schmid, Vorsitzender des Landesverbands des Bunds der Strafvollzugsbediensteten und selbst Justizvollzugsbeamter in der JVA Konstanz. Teilweise seien es zwischen 50 und 60 Gefangene, die auf einen Justizvollzugsbeamten kommen. „Da hat man die Augen und Ohren nicht mehr überall und die Aufmerksamkeit sinkt“, meint Schmid. Eine Folge ist, dass suizidale Anzeichen nicht oder zu spät erkannt werden.
Für Julia Mayer, die Ehefrau des verstorbenen Häftlings Ralf Mayer
ist es unvorstellbar, warum ihr Mann sich das Leben genommen haben soll. Seinen Abschiedsbrief hat sie aufgehoben. Genauso wie all die anderen persönlichen Dinge aus seiner Zelle. Viel ist es nicht: ein Parfum, zwei Bücher, ein paar Briefe, ein Kalender. Handy und Geldbeutel fehlen. Sie seien ihr nie ausgehändigt worden, sagt Julia Mayer.
Die 44-Jährige glaubt nicht, dass ihr Mann sich selbst umgebracht hat. „Die Pulsadern am linken Arm waren aufgeschnitten“, sagt sie. „Ralf war aber Linkshänder.“Außerdem habe er nicht nur frische, sondern auch alte Wunden gehabt: Verletzungen im Gesicht, eine gebrochene Nase, ein Stich am Hals. „Das passt alles nicht zusammen“, meint die Ehefrau.
Ob ihr Mann ernsthafte Probleme mit anderen Häftlingen gehabt habe, wisse sie nicht, meint Julia Mayer. „Früher hat er sich jedenfalls nicht geprügelt oder so“, sagt sie. Im Gefängnis sei er mal von anderen Gefangenen dazu aufgefordert worden, Drogen zu schmuggeln, berichtet sie. „Er war Reiniger, da hätte sich das wohl angeboten.“Als er sich weigerte, hätten die anderen ihm sogar gedroht. Wer die anderen waren? „Keine Ahnung, irgendeine Gang. Genauer gesagt hat er das nie.“
Reibereien auf der Tagesordnung
Für Angehörige sei es immer schwierig, eine Selbsttötung zu akzeptieren, sagt der Justizvollzugsbeamte Alexander Schmid. Viele würden die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass jemand nachgeholfen hat. „Sie suchen Erklärungen“, sagt Schmid. Er berichtet, dass die Situation in den Gefängnissen für die Insassen belastend sein kann. Hinter Gittern stehen Reibereien auf der Tagesordnung. „Durch die Überbelegung steigt der psychische Druck erst recht“, weiß der Justizvollzugsbeamte, „das kann zu Spannungen führen.“Und diese müssen sich irgendwie entladen. Die Häftlinge richten ihre Aggression gegen Gegenstände, andere Häftlinge oder sich selbst.
Dabei gibt es Situationen im Vollzug, die hinsichtlich einer Suizidgefahr besonders kritisch sind. Das Justizministerium nennt drei Konstellationen, in denen es auffallend oft zum Suizid kommt: kurz nach der Inhaftierung, etwa in der Untersuchungshaft, vor, während oder nach Gerichtsterminen sowie bei Beziehungsproblemen.
Wie Steffen Tanneberger vom baden-württembergischen Justizministerium erklärt, werden Todesfälle von Gefangenen unmittelbar an Polizei und Staatsanwaltschaft gemeldet. Die Staatsanwaltschaft entscheidet darüber, ob eine Obduktion erfolgt und ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird. „Anstaltsintern gibt es eine Aufarbeitung jedes Suizids“, informiert Tanneberger, „gegebenenfalls wird die Beauftragte für Suizidprävention hinzugezogen.“
Der Leichnam von Ralf Mayer wurde obduziert. Das Ergebnis: Eine Fremdeinwirkung lag nicht vor. Mayer hat sich selbst getötet, kein anderer war daran beteiligt. Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wurde nicht eingeleitet. Julia Mayer lässt der Suizid ihres Mannes trotzdem nicht los. Ständig denkt sie darüber nach, was in der Todesnacht passiert sein könnte. In ihrem Kopf wirbeln die Bilder durcheinander. „Es gibt zu viele Fragezeichen“, erklärt die 44-Jährige. „Aber ich werde wohl nie eine Antwort darauf bekommen und muss endlich damit abschließen.“
Sonnyboy und Frauenheld
Wie die letzten Stunden vor Ralf Mayers Tod abgelaufen sind, weiß niemand. Was in dem Gefangenen vorgegangen ist, auch nicht. Privat war der 46-Jährige ein Lebemann, ein Sonnyboy, ein Frauenheld. Mit Julia Mayer hat er drei Kinder. Ein Foto, das noch immer im Wohnzimmer der Mayers steht, zeigt Ralf beim Familienurlaub in der Türkei: Er ist braun gebrannt, die Jeanshose ist bis zum Knie hochgekrempelt, das weiße Hemd über der Brust geöffnet. Der Blick geht in die Ferne, das Lachen ist verschmitzt. „So war er“, erinnert sich seine Frau.
Zwei Wochen nach seinem Tod wäre Ralf Mayer entlassen worden. Seine Haftstrafe wegen Betrug und Urkundenfälschung hätte er dann abgesessen. In dem Kalender, der in seiner Zelle gefunden wurde, hat er Termine weit über seinen Todestag hinaus eingetragen. „Großer Einkauf “steht dort oder „Training“. „Sein Ziel war es, im Gefängnis ein paar Kilogramm abzunehmen“, erzählt Julia Mayer.
Am Abend vor seinem Tod hat die 44-Jährige noch mit ihrem Mann telefoniert. Alles sei wie immer gewesen, sagt sie. Er habe sich nichts anmerken lassen, sogar nach den Kindern gefragt. Aber als ob sie etwas ahnte, fand Julia Mayer in der Nacht keine Ruhe. Sie konnte nicht schlafen. Schließlich kramte sie eine CD von „Unheilig“hervor, die Ralf ihr geschenkt hatte. Ein einziges Lied hörte sie in Wiederholungsschleife, immer und immer wieder. Der Titel: „Ich würd dich gern besuchen“. Der Song beginnt mit dem Satz: „Ich glaub daran, dass die Sterne, die wir sehn, all jenen den Weg leuchten, die einmal von uns gehn.“Am nächsten Morgen stand die Polizei vor der Tür und überbrachte der dreifachen Mutter die Nachricht, dass ihr Mann nicht mehr lebt.
Ein Interview zu dem Thema mit Thomas Mönig, Leiter der JVA Ravensburg, lesen Sie unter www.schwäbische.de/suizide-jva