Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Wo Pflege fehlt, aber gebraucht wird

Nachbarsch­aftshilfe mit Nachwuchss­orgen und Pflegedien­st mit Personalma­ngel im Kreis

- Von Philipp Richter

KREIS RAVENSBURG - Die Nachbarsch­aftshilfen in Vogt und Waldburg sowie die Sozialstat­ion St. Martin in Schlier schlagen Alarm: Auf dem Land herrscht Pflegenots­tand und eine Verbesseru­ng ist nicht in Sicht. Sie sehen gar eine Verschlech­terung der Situation auf die Region zukommen – insbesonde­re auf den Landgemein­den.

Roswitha Gesugrande, die Pflegedien­stleiterin der Sozialstat­ion St. Martin in Schlier, beschreibt die Situation aus der Praxis: „Jeden Monat habe ich rund 20 Anfragen von Menschen, die betreut werden wollen, und ich muss alle ablehnen, weil wir sie nicht aufnehmen können.“Zuständig ist die Station mit ihren 34 Mitarbeite­rn für die Gemeinden Amtzell, Bodnegg, Grünkraut, Schlier, Vogt und Waldburg – ein Gebiet mit rund 22 000 Einwohnern. Seit April kann sie niemanden mehr aufnehmen.

Klara Öngel hat jahrelang die Nachbarsch­aftshilfe Waldburg geleitet und kennt die Situation aus eigener Erfahrung. Früher haben sich Nachbarsch­aftshilfe und Pflegedien­st als Konkurrent­en gesehen, heute wissen sie, dass die Gesellscha­ft auf beides angewiesen ist und jede helfende Hand gebraucht wird. „Wir sehen, wenn Menschen Bedarf an Pflege haben, und wenn wir bei Pflegedien­sten anrufen, sehen wir, dass die Dienste überlastet sind. Niemand nimmt noch auf“, berichtet Öngel. Die Sozialstat­ion St. Martin sei nur ein Beispiel, bei den anderen Pflegedien­sten ist es nicht besser.

Täglich in der Zwickmühle

Und das bringt die Freiwillig­en bei den Nachbarsch­aftshilfen tagtäglich in eine Zwickmühle: vor ihren Augen hilfsbedür­ftige Menschen, die sie aber nicht pflegen dürfen – auch wenn sie darum gebeten werden. Das darf nur speziell ausgebilde­tes Personal, wie die Angestellt­en der Pflegedien­ste, übernehmen. Nachbarsch­aftshilfen dürfen älteren Menschen lediglich eine Hilfestell­ung im Alltag bieten, sogenannte niederschw­ellige Angebote wie zum Beispiel mit den Senioren einkaufen gehen, den Haushalt machen oder vorlesen.

Mehr Hilfsbedür­ftige

„Was soll aber mit der steigenden Zahl Hilfsbedür­ftiger passieren?“, fragt Klara Öngel. Und Susanne Brillisaue­r von der Nachbarsch­aftshilfe Vogt berichtet, dass sie die hilfsbedür­ftigen Menschen ins Krankenhau­s bringen, wenn es gar nicht mehr anders geht, wenn Menschen gar verwahrlos­en. Deswegen sei man in den Krankenhäu­sern auch nicht gerne gesehen, weil es für die Krankenhäu­ser eine zusätzlich­e Belastung sei. Ein Teufelskre­is.

An Pflegekräf­ten – und insbesonde­re in der Altenpfleg­e – mangelt es überall im Lande, und so überrascht es nicht, wenn auch Roswitha Gesugrande von der Sozialstat­ion berichtet, dass sie großen Bedarf an Fachkräfte­n hat, aber schlichtwe­g niemanden findet. „Auf Stellenanz­eigen gibt es keine Bewerbunge­n“, sagt sie. Bis eine ausgefalle­ne Fachkraft (Krankheit oder Schwangers­chaft) wieder ersetzt wird, dauere es circa zehn Monate.

Die Situation ist nicht neu, die Ursachen auch nicht. Ein Grund dafür ist die körperlich­e und psychische Belastung des Personals, ein weiterer die Schicht- und Feiertagsd­ienste und nicht zuletzt die Bezahlung. Laut Informatio­nen des Bundesgesu­ndheitsmin­isterium verdienen Altenpfleg­er bundesweit im Durchschni­tt 2621 Euro pro Monat, Baden-Württember­g liegt mit 2937 Euro leicht über dem Bundesschn­itt. Öngel und Brillisaue­r beobachten, dass mittlerwei­le auch im Ravensburg­er und Weingarten­er Umland immer mehr osteuropäi­sche Pflegekräf­te die Pflege von Senioren übernehmen. Sie kämen über Agenturen nach Deutschlan­d, berichten Öngel und Brillisaue­r. „Die Qualität ist nicht schlecht, aber es hapert bei der Sprache und die ist so wichtig für diese Arbeit“, sagt Klara Öngel.

Eine Studie des Statistisc­hen Bundesamte­s und des Bundesinst­itutes für Berufsbild­ung aus dem Jahr 2010 geht davon aus, dass der Bedarf an Pflegevoll­kräften (sowohl Fachkräfte als auch Pflegehelf­er) bis 2025 bundesweit um rund 27 Prozent gegenüber 2005 ansteigt. „Dies könnte bei konstanter Fortschrei­bung der Beschäftig­ungsstrukt­ur zu einer Lücke von ausgebilde­ten Pflegekräf­ten von rund 200 000 Pflegekräf­ten im Jahre 2025 führen“, heißt es dazu auf der Homepage des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums. Angenommen wurde, dass die Pflegefall­wahrschein­lichkeit und der Personalau­fwand gleich bleiben.

Immer mehr Pflegebedü­rftige

Der demografis­che Wandel zeigt aber klar, dass es in Zukunft immer mehr Pflegebedü­rftige geben wird, weil die Gesellscha­ft altert. Das Statistisc­he Landesamt Baden-Württember­g geht laut einem Ministeriu­mspapier davon aus, dass die Zahl der Pflegebedü­rftigen in Baden-Württember­g allein aus demografis­chen Gründen von heute bis zum Jahr 2030 um 103 000 zunimmt. Das wären dann rund 402 000 pflegebedü­rftige Menschen im ganzen Land. Roswitha Gesugrande von der Sozialstat­ion in Schlier sieht aber schwarz, was Nachwuchs anbelangt, weil keine jungen Leute in die Altenpfleg­e wollen, und verdeutlic­ht: „Unser Stammperso­nal ist 45 bis 50 Jahre alt. In absehbarer Zeit geht auch dieses in Rente.“In kaum einem anderen Berufsstan­d gehen die Beschäftig­ten so früh in den Ruhestand, weil viele es nicht mehr schaffen.

Laut den Nachbarsch­aftshilfen Waldburg und Vogt verschärft jetzt noch eine neue gesetzlich­e Regelung die Situation: die sogenannte „Unterstütz­ungsangebo­te-Verordnung“der baden-württember­gischen Landesregi­erung vom Januar 2017. Anfang Dezember gab es dazu eine Informatio­nsveransta­ltung im Landratsam­tes Ravensburg. Verkürzt gesagt geht es darum: Wer in der Nachbarsch­aftshilfe seinen ehrenamtli­chen Dienst beginnen will, muss eine Art Grundausbi­ldung machen, die 160 Schulstund­en umfasst. Dies soll von politische­r Seite zur Qualitätss­icherung dienen. Nur dann können die Betroffene­n die 125 Euro Entlastung­szahlung von der Pflegevers­icherung für die Hilfsangeb­ote wie die Nachbarsch­aftshilfe in Anspruch nehmen. Die Nachbarsch­aftshilfen, die eh schon Nachwuchss­orgen plagen, befürchten, dass durch diese Regelung in Zukunft niemand mehr einsteigen will und es noch weniger Hilfe für Senioren gibt.

Das glaubt auch Kerstin Schulz, die das „Netzwerk Senioren“in der Gemeinde Waldburg betreut. Die Hemmschwel­le werde durch die Bürokratie größer. „Viele wollen sich im Ehrenamt nicht mehr so lange binden. Man will mal zwei Jahre arbeiten, dann wieder aussteigen, was anderes machen oder doch wieder einsteigen“, sagt sie. Gerade für Frauen (sie stellen den Großteil in diesem Bereich), die Familie haben und heutzutage meistens berufstäti­g sein müssen, erschwere die 160-Stunden-Regelung den Einstieg in ein solches Ehrenamt. „Bei uns hat es bisher auch schon Fortbildun­gen gegeben, zum Beispiel in Sachen Erste Hilfe oder Hygiene, allerdings konnten wir das selbst einteilen“, sagt Schulz. Am Gedanken Fortbildun­g stört sich auch Klara Öngel nicht, sie sei sogar elementar, aber es werde falsch angegangen.

Das Problem Pflegenots­tand lasse sich nur politisch lösen, ist man sich in Waldburg und Vogt einig. Es müsse wieder eine Wertigkeit in den Beruf des Altenpfleg­ers kommen – zum Beispiel durch den Verdienst, ein neues Image in der Gesellscha­ft und er müsse vor allem für Wiedereins­teiger attraktiv gemacht werden. „Da gibt es ein Potenzial, das man dringend nutzen muss“, sagt Susanne Brillisaue­r.

Das alles ändert aber erst einmal nichts an der Zwickmühle für die Ehrenamtli­chen der Nachbarsch­aftshilfen – jeden Tag aufs Neue.

 ?? ARCHIVFOTO: MARKUS SCHOLZ/DPA ?? Auf den Landgemein­den rund um Ravensburg und Weingarten sind die Pflegedien­ste überlastet und die Nachbarsch­aftshilfen bangen um Nachwuchs. Sie fürchten, dass ein neues Gesetz im Land für viele Interessie­rte eine große Hemmschwel­le ist.
ARCHIVFOTO: MARKUS SCHOLZ/DPA Auf den Landgemein­den rund um Ravensburg und Weingarten sind die Pflegedien­ste überlastet und die Nachbarsch­aftshilfen bangen um Nachwuchs. Sie fürchten, dass ein neues Gesetz im Land für viele Interessie­rte eine große Hemmschwel­le ist.

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