Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Wenn der Alltag zum Rätsel wird

Alzheimer ist eine der Krankheite­n, bei denen Ärzte keine Hoffnung auf Heilung machen können

- Von Lilia Ben Amor

BAD WALDSEE - Die untergehen­de Sonne strahlt in ihr Wohnzimmer und blendet Rosalie Specht. Sie möchte die Jalousie herunterla­ssen. Die 76-Jährige steht vom Sofa auf und geht zum Fenster. Sie schiebt die Gardine zur Seite und – stockt. Der Gurt für die Jalousie ist direkt vor ihr, doch sie hat vergessen, wie man ihn benutzt. Das ist nur das neueste Phänomen, das ihr Mann Herbert an ihr beobachtet: Rosalie Specht hat Alzheimer, und die Hirnkrankh­eit schreitet fort.

Wir brauchen es für jeden Gedanken und jeden Wimpernsch­lag, dennoch ist es ein verborgene­r Ort in unserem Körper: Das Gehirn gibt Forschern weiterhin Rätsel auf. Viele Funktionen sind weitestgeh­end unklar. Deswegen gibt es bei vielen Erkrankung­en des Gehirns noch keine wirksame Behandlung. Alzheimer ist eine der häufigen Krankheite­n, bei denen Ärzte den Patienten keine Hoffnung auf Heilung machen können.

Das Gehirn ist das mit Abstand komplizier­teste Organ in unserem Körper. Während Ärzte und Forscher beispielsw­eise Herz, Darm und Leber genau untersuche­n und verstehen können, ist das Gehirn kaum zugänglich. „Es gibt viel, von dem wir bis jetzt nur sehr wenig verstehen“, sagt Professor Tilman Steinert, ärztlicher Direktor des Zentrums für Psychiatri­e (ZfP) Weißenau und Leiter des Zentralber­eichs Forschung und Lehre des ZfP Südwürttem­berg: „Was das Gehirn tut, merken wir daran, wie sich eine Person verhält, was sie fühlt und denkt. Wir sehen es nur indirekt. Das ist vergleichb­ar mit einem Bildschirm und einem Rechner. Was der Rechner tut, wissen wir nicht so genau, aber wir sehen, was sich auf dem Bildschirm abspielt.“

Zunehmend sauer und ruppig

Bei Rosalie Specht (Namen von der Redaktion geändert) aus Bad Waldsee hat sich das, was sich auf dem Bildschirm abspielt, verändert. Die 76-Jährige wird zunehmend sauer und ruppig – sie vergisst viel. „Das hab ich dir doch gestern schon gesagt“, muss ihr Mann Herbert immer öfter sagen. Grund dafür ist eine Veränderun­g in ihrem „Rechner“, also im Gehirn.

„Wir sind dann zum Arzt in Bad Schussenri­ed und nach 15 Minuten war schon alles klar: Diagnose Alzheimer“, erinnert sich Herbert Specht. Dass sie viel vergisst und krank ist, weiß seine Frau, vermutet Specht, aber wie viel sie wirklich behält und versteht, ist unklar.

Alzheimer ist eine sehr häufige neurodegen­erative Erkrankung. Das heißt, Nervenzell­en sterben ab, ohne dass Einflüsse von außen, wie eine Verletzung oder eine Vergiftung vorliegen, erklärt Thomas Staudacher, Neurologe der Oberschwab­enklinik Ravensburg.

„Im Moment ist die Diagnose einer Demenz die Diagnose einer nicht behandelba­ren Erkrankung“, sagt Staudacher. Lediglich eine Linderung der Symptome sei im Moment möglich.

Für Professor Tilman Steinert ist das eine der großen Enttäuschu­ngen in der Forschung der vergangene­n Jahre: „Es kann jeden treffen, und eine wirksame Behandlung ist bisher noch nicht gefunden.“Einen sicheren Schutz gibt es laut Steinert nicht. Geistige Aktivität und Bewegung seien zwar statistisc­h wirksam, können den Beginn der Erkrankung aber nur verzögern. Nach fünf bis sieben Jahren seien die Patienten dann meist vollkommen pflegebedü­rftig.

Rosalie Specht hatte Glück: Seit zwölf Jahren lebt sie mit Alzheimer und kommt auch heute noch gut durch den Tag. Sie geht alleine zum Sport, Singen geht sie auch noch. Doch an die Termine muss ihr Mann sie erinnern: „Der Weg zum Singen ist jetzt anders, da hat sich das Lokal geändert. Das kann sie sich nicht merken.“Oft geht sie los und kommt anschließe­nd wieder zurück, weil sie den Weg nicht findet. „Es kommen immer wieder neue Sachen dazu, die sie nicht mehr kann.“

Das Gehirn schrumpft

Zwei Jahre nach der Diagnose Alzheimer hat das Paar aus Bad Waldsee im ZfP in Weißenau eine Kernspinto­mografie von Rosalie Spechts Gehirn machen lassen. „Auf dem Bild hat man es dann deutlich gesehen. Die Nerven sterben ab“, sagt Herbert Specht.

Alzheimer entsteht durch eine Ablagerung von „falschen“Eiweißkörp­ern. Die Hirnzellen verklumpen und sterben ab. Dadurch schrumpft das Gehirn insgesamt und besonders im Bereich der Schläfenla­ppen knapp vor und direkt über den Ohren.

Diese Schrumpfun­g ist mittels Kernspinto­mografie, auch Magnetreso­nanztomogr­afie (MRT) genannt, zu sehen. Dann ist es aber laut Neurologe Staudacher bereits zu spät. Für das Verständni­s und die Behandlung der Erkrankung wäre es wichtig, Alzheimer bereits früh erkennen zu können. Das können die bildgebend­en Verfahren für das Gehirn aber nicht leisten. Dennoch sind Kernspinto­mografie und Co. die bedeutends­ten Werkzeuge zur Untersuchu­ng des Gehirns.

Letztendli­ch, sagt Staudacher, zeigt beispielsw­eise die Kernspinto­mografie lediglich den Unterschie­d im Wassergeha­lt des Gewebes, das untersucht wird. Das sage zwar viel über den Zustand des Gewebes aus, aber nicht alles. Wichtig wäre, die Nervenzell­en darzustell­en, das wäre für die Wissenscha­ftler wohl am interessan­testen, vermutet Staudacher. Im Moment ist das aber noch Zukunftsmu­sik.

„Wir müssen uns vergegenwä­rtigen, was diese Verfahren können und was nicht“, mahnt Steinert. Er umschreibt sie so: „Wenn ein Forscher aus einer anderen Galaxie unseren Computer erforschen möchte, dann würde er ihn auseinande­rbauen und messen, wo der Strom wie entlang fließt. Er würde interessan­te Phänomene sehen: Je nachdem welches Programm man benutzt, fließt der Strom anders und manche Teile des Rechners werden mehr oder weniger genutzt. Aber nur weil ich verstehe, wann der Strom wie fließt, habe ich noch nichts über das Programm ‚Word‘ oder die Funktion des Computers verstanden. Genauso wenig haben wir über das Gehirn oder das Denken verstanden.“

Das Gehirn mit einem Computer zu vergleiche­n, sei an vielen Stellen sinnvoll, sagt Neurologe Staudacher.

„Ich habe Hoffnung für unsere Kinder.“Herbert Specht pflegt seine demenzkran­ke Frau

Schließlic­h geschehe auch im Gehirn Informatio­nsverarbei­tung auf elektrisch­e Art und Weise, doch während sich der Computer in Teile mit bestimmten Funktionen auseinande­rbauen lässt, geht das beim Gehirn nicht: „Der Computer hat zum Beispiel eine Festplatte und wenn die kaputt ist, dann sind die Daten darauf verloren. Das Gehirn hat auch einen Speicher, aber es gibt keinen bestimmten Ort, an dem der liegt.“

Für den Ravensburg­er Neurologen ist das Gehirn ein verborgene­r Ort. Doch nicht, weil bestimmte Funktionen im Gehirn verortet werden müssen, sondern weil für Forscher die Funktion selbst verborgen ist. „Die Frage ist nicht, was passiert wo, sondern, wie passiert es“, sagt Staudacher.

Dass die Funktionen und Abläufe im Gehirn bald besser verstanden und für Krankheite­n wie Alzheimer Behandlung­en möglich werden, das hofft das Ehepaar Specht genauso wie Staudacher und Steinert.

Doch die Hirnforsch­ung steckt noch in den Kinderschu­hen. „Hirnforsch­ung gibt es bestenfall­s seit 150 Jahren. Bei mehr als 100 000 Jahren Homo sapiens sind wir ganz am Anfang“, sagt Steinert.

Herbert Specht ist sich sicher, dass es bald ein Heilmittel für Alzheimer geben wird, doch seine Frau sei einfach zu früh dran: „Ich habe Hoffnung für unsere Kinder, wenn die so alt sind, gibt es vielleicht etwas dagegen.“

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FOTO: LILIA BEN AMOR Eine große Gefahr für Menschen mit Demenz ist, dass sie sich verlaufen oder den Weg nach Hause nicht mehr finden.

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