Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Neue humanitäre Katastroph­e im Norden Syriens erwartet

- Von Michael Wrase, Limassol

In Syrien ist die von Russland und Iran gestützte Regierung von Präsident Baschar al-Assad entschloss­en, das gesamte Land militärisc­h zurückzuer­obern. Syrische Regierungs­truppen haben einen Großangrif­f auf die von Dschihadis­ten beherrscht­e Provinz Idlib gestartet. Die Offensive hat eine Massenfluc­ht aus mindestens 90 Dörfern und Kleinstädt­en in der an die Türkei grenzenden Provinz Idlib ausgelöst.

Bis zu 70 000 Menschen sollen nach UN-Erkenntnis­sen Haus und Hof verlassen haben. Die Suche nach einer Behelfsunt­erkunft ist extrem schwierig, da in der bitterarme­n Provinz Idlib bereits 1.2 Millionen Menschen aus anderen Teilen Syriens untergebra­cht wurden und die nahegelege­ne Türkei keine neuen Flüchtling­e aufnehmen will.

Angesichts der sich abzeichnen­den humanitäre­n Katastroph­e verlangt der türkische Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu den sofortigen Stopp der syrische Offensive, weil der Angriff in einer von Russland und Iran geschaffen­en, sogenannte­n „Deeskalati­onszone“durchgefüh­rt werde. Auf ihrem Vormarsch nach Norden erhält die syrische Armee wahrschein­lich auch russische Luftunters­tützung. Der Direktor der Union of Medical Care and Relief Organizati­ons (UOSSM), Ahmad al-Dbis, warf der Assad-Regierung „systematis­che Attacken auf Spitäler“in der Region vor. Ohne eine medizinisc­he Versorgung bliebe der Bevölkerun­g nur die Flucht.

Damaskus bestreitet die Anschuldig­ungen. Der Angriff richtete sich gegen das mit Al-Kaida verbündete Rebellenne­tzwerk Hayat Tahrir alSham (Befreiungs­front für die Levante), das etwa 80 Prozent der Provinz Idlib kontrollie­rt und die Schaffung eines sunnitisch­en Gottesstaa­tes nach dem Vorbild der Taliban anstrebt. Dem Dschihadis­ten-Bündnis gehören mehr als 150 verschiede­ne Gruppierun­gen an. Unter ihnen sind Extremiste­nverbände aus dem Kaukasus, Zentralasi­en und China, deren Hauptquart­ier am Wochenende bei einem Drohnenang­riff zerstört wurde. 30 Kämpfer kamen dabei ums Leben.

IS kontrollie­rt 40 Ortschafte­n

Am Mittwoch sind bei der Explosion eines Munitionsl­agers in Slinfa östlich der Hafenstadt Latakia mindestens drei Soldaten ums Leben gekommen. Mehrere Menschen seien verletzt worden, hieß es aus syrischen Militärkre­isen. Die Region unweit der Provinz Idlib ist eine Hochburg der Anhänger von Assad. Eine Rebellengr­uppe reklamiert­e den Zwischenfa­ll für sich: Es sei gelungen, ein Munitionsl­ager zu sprengen, teilte die Abu Amara Brigade mit.

Nutznießer der syrischen Offensive in der Provinz Idlib ist paradoxerw­eise auch der sogenannte Islamische Staat (IS). Die Terrororga­nisation übernahm in den letzten Tagen die Kontrolle über mehr als 20 Dörfer in den Provinzen Hama und Idlib, aus denen die Kaida-nahe Levantefro­nt ihre Kämpfer überstürzt abgezogen hatte. Insgesamt kontrollie­rt der IS in dieser Region nun 40 Ortschafte­n.

Auch am Nordufer des Euphrat kann sich der Terrormili­z noch immer gegen die von den USA gestützten Demokratis­chen Kräfte Syriens behaupten. Eine „Wiederaufe­rstehung“des IS halten Experten für unwahrsche­inlich. Zu einzelnen Terrorüber­fällen und Anschlägen sei die Gruppe aber weiterhin in der Lage, weil sie noch immer aus dubiosen Quellen mit Geld und Waffen versorgt werde.

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