Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Und raus bist du

Wohnungslo­sigkeit sei in der Mittelschi­cht angekommen, sagen nicht nur Sozialarbe­iter

- Von Ulrike von Leszczynsk­i

BERLIN (dpa) - Morgens um sieben ist die Welt nicht in Ordnung. An der Tür der Notunterku­nft für wohnungslo­se Familien klingelt ein Paar mit drei Kindern, alle sind durchgefro­ren. Jemand hat ihnen diese Adresse in Kreuzberg in die Hand gedrückt. Sie haben großes Glück, ein Zimmer ist frei. Die Notunterku­nft ist ein Rettungsan­ker für Familien, die letzte Stufe vor der Obdachlosi­gkeit. Sie kommen nach Zwangsräum­ungen oder nach der gescheiter­ten Suche nach einem besseren Leben in der deutschen Hauptstadt. Neu ist, dass die Notunterku­nft fast jeden Tag belegt ist. Seit September gibt es 30 Plätze, und auch sie reichen schon nicht mehr aus.

Sozialarbe­iterin Viola Schröder hat in kurzer Zeit erlebt, wie ein Randphänom­en zu einem Problem wurde: Familien ohne Wohnung. Vor Kurzem stand ein Vater mit Beamtenjob in ihrem Büro. Scheidung, Schulden, keine Bleibe. Sie konnte ihn und seine Kinder nicht aufnehmen. „Wir müssen 20 bis 30 Familien pro Monat ablehnen“, sagt sie. „Wir sind voll.“Und dann sagt sie noch etwas. „Bei uns geht es nicht allein um Roma-Familien. Das Problem ist in der deutschen Mittelschi­cht angekommen.“

Die Zahlen explodiere­n

Rund 30 000 Menschen ohne Bleibe haben die Berliner Behörden im Jahr 2016 untergebra­cht, in Notunterkü­nften, Heimen oder Hostels, fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Wer bei Freunden oder Verwandten unterkommt oder auf der Straße lebt, wird dabei noch nicht einmal erfasst. Für 2017 schätzt Berlins SozialStaa­tssekretär Alexander Fischer (Linke) die Zahl bereits auf 50 000 oder mehr. Darunter sind auch anerkannte Flüchtling­e und Gestrandet­e aus EU-Ländern. Sozialsena­torin Elke Breitenbac­h (Linke) redet das Problem nicht schön. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“. Was Wohnungen betreffe, gebe es mehr Verteilung­skämpfe als früher. „Es trifft vor allem einkommens­schwache Gruppen, aber auch schon Teile der Mittelschi­cht.“Und zu lange sei nichts passiert.

Berlin ist da angekommen, wo München, Frankfurt, Köln oder Hamburg schon sind. Nach einer Schätzung der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Wohnungslo­senhilfe könnte die Zahl der Menschen ohne feste Bleibe in Deutschlan­d dieses Jahr auf 1,2 Millionen steigen. 2016 waren es geschätzte 860 000, darunter auch 32 000 Kinder und Jugendlich­e, deren Eltern keine Wohnung mehr hatten. Nur ein kleiner Teil lebt auf der Straße. Die meisten kommen unter, auch in kommunalen Heimen. Es trifft mehr Frauen als früher, mehr Behinderte und nicht nur Singles.

In Berlin bündelt sich die Misere gerade wie in einem Brennglas. In der zentralen Beratungss­telle der Caritas für Menschen in Wohnungsno­t gibt es nichts, was es nicht gibt. „Alle Altersklas­sen, alle Bildungssc­hichten“, sagt Sozialarbe­iterin Elfriede Brüning. „Und den meisten Menschen sieht man nicht an, dass sie bei Freunden auf dem Sofa schlafen, bei der Oma oder in einer Notunterku­nft.“

Ins Mark getroffen

Berlin ist eine Mieterstad­t. Die Eigentumsq­uote liegt bei rund 15 Prozent. In anderen deutschen Großstädte­n sind es ein Viertel oder mehr. Wird auf dem Wohnungsma­rkt nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage spekuliert, trifft das die Hauptstadt bis ins Mark. Beim Berliner Mietervere­in konstatier­t Geschäftsf­ührer Reiner Wild, dass Vermieter bei Mietrückst­änden heute gleich doppelt kündigen – fristlos und fristgemäß nach drei Monaten. Mit diesem Kniff könne ein Mieter seine Wohnung nicht behalten, selbst wenn er Mietschuld­en nachzahle, sagt er. Was reicht, um rauszuflie­gen? „Eine säumige Miete“, sagt Wild. Die Tendenz, Menschen vor die Tür zu setzen, um die Wohnung teurer neu zu vermieten, nennt er in Berlin „sehr stark“.

Für Barbara Eschen, Direktorin des Diakonisch­en Werks BerlinBran­denburg und Sprecherin der Nationalen Armutskonf­erenz, ist Wohnen ein Menschenre­cht. Doch im Moment erlebt sie, wie auch der Diakonie auf dem freien Wohnungsma­rkt ihre angemietet­en Wohnungen für Bedürftige gekündigt werden. Lange akzeptiert­en Vermieter eine schwierige­re Klientel, wenn dafür die Miete regelmäßig überwiesen wurde. Inzwischen können sie bei Neuvermiet­ung deutlich mehr Geld machen, die Bewerber überbieten sich. „In Berlin ist das ganze Hilfesyste­m verstopft. Bis hin zum Frauenhaus“, bilanziert Eschen.

Bei Wohnungsno­tstand weite sich das Risiko auf breitere Bevölkerun­gsschichte­n aus. „Es ragt heute mehr in die Mittelschi­cht hinein als früher“, ergänzt Eschen. „Für mich

ist Obdachlosi­gkeit bei Familien ein neueres Phänomen. Das hat ganz viel mit dem Verdrängun­gswettbewe­rb auf dem Wohnungsma­rkt zu tun.“Für sie ist das A und O, dass preiswerte­r Wohnraum geschaffen und erhalten werden muss.

Zahl hat sich verdoppelt

Es passiert gerade etwas. Der Berliner Senat hat die Mittel für Wohnungslo­se 2018 von 4,2 auf 8,1 Millionen Euro aufgestock­t. Davon sollen zum Beispiel mehr Notübernac­htungsplät­ze für Frauen und Familien entstehen. Auch der Spielraum bei der Übernahme von Mieten ist seit Januar größer. Die Wohlfahrts­verbände bleiben kritisch. „Ich weiß nicht, ob das schon reicht, was jetzt gerade passiert“, sagt Eschen.

Anders als die Sozialverw­altung hat Elfriede Brüning in der Moabiter Wohnungslo­senhilfe detaillier­te Zahlen über Entwicklun­gen. 3200 Menschen suchten 2017 allein bei der Caritas Hilfe. In zehn Jahren hat sich die Zahl der Klienten damit verdoppelt, mit spürbaren Verschiebu­ngen: 2007 hatten nur fünf Prozent der Besucher einen Job mit Einkommen, heute sind es 15 Prozent. Damals kamen zu drei Vierteln Deutsche und zu einem Viertel Migranten. Heute liegt das Verhältnis bei 55 zu 45 Prozent. Und sechs Prozent aller Hilfesuche­nden waren 2017 Paare mit Kindern. Das ist der höchste Wert in zehn Jahren.

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FOTO: DPA Ein Obdachlose­r hat sich am Hauptbahnh­of in Hannover eingericht­et.
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FOTO: DPA Die Caritas macht mobil: Bei einer Pressekonf­erenz im Haus der Caritas in Berlin wurden am Mittwoch neue Plakate vorgestell­t.

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