Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Geschichte­nerzähler par excellence

Gregor Gysi im Gespräch mit Lothar Kuld im Ravensburg­er Schwörsaal

- Von Babette Caesar

RAVENSBURG - Den „Gysi“, den mochte damals, als die Mauer fiel, keiner. Gehasst habe man ihn. Von der Zeit davor und danach, von seinen Eltern und vom Leben heute erzählte Gregor Gysi im Gespräch mit Moderator Lothar Kuld am Dienstagab­end im ausverkauf­ten Schwörsaal. Anlass ist seine neu erschienen­e Autobiogra­fie „Ein Leben ist zu wenig“, die er auf Einladung der Buchhandlu­ng Ravensbuch vorstellte.

Einen passendere­n Buchtitel hätte sich der Autor nicht wählen können. Machte sein Gespräch mit Lothar Kuld doch klar, Gregor Gysi hat mehr als ein Leben. Das eines Rechtsanwa­ltes in der ehemaligen DDR, eines Politikers, Moderators, Autors und Familienva­ters.

All das brachte er überwiegen­d monologisi­erend in zwei Stunden unter. Überquelle­nd vor Detailwiss­en, witzig, klug und ironisch, wie es seine Art ist, und durchaus ernst, wenn es um den Blick auf die heutige westliche Gesellscha­ft geht.

In wenigen Tagen, am 16. Januar, feiert der gebürtige Berliner seinen 70. Geburtstag. Anzusehen ist ihm sein Alter nicht. Er wirkt jünger. Vielleicht ist es seine verbale Wendigkeit, die ihn so mobil hält. Sehen und hören wollten ihn am Abend so viele Menschen, dass sie bereits um 19 Uhr im Treppenhau­s Schlange standen.

Die „sechs Leben“des Gysi

„Klingt etwas buddhistis­ch, der Buchtitel“, startete Lothar Kuld das Gespräch. Religiös? Nein, auch nicht buddhistis­ch. Gregor Gysi konterte mit seinen bisherigen „sechs Leben“, die von der Kindheit und Jugend in Ostberlin, wo er nach dem Abitur einen Lehrabschl­uss zum Facharbeit­er für Rinderzuch­t machte und dann zum Studium der Rechtswiss­enschaft umschwenkt­e, über die Wende und die für ihn „schweren Jahre“als Bürger der Bundesrepu­blik Deutschlan­d reichen.

Wäre er nicht so „preußisch stur“, hätte er nicht die gewisse Achtung, anders behandelt zu werden, errungen. „Nun warte ich auf mein siebtes Leben“, lachte er und meint damit sein Alter. Es zu genießen, sei eine bewusste Entscheidu­ng. Das glaubt man diesem nicht gerade groß gewachsene­n, äußerst agilen und um keine nächste „hübsche“Geschichte verlegenen Mann sofort.

Anhand der Biografie des Vaters Klaus Gysi, seines Zeichens Ökonom, Kommunist, Diplomat und Minister in der DDR, und die der Mutter Irene (geborene Lessing), tätig im Kulturmini­sterium der DDR, deckte Gysi in einem wahren Rederausch die weitläufig­en Verzweigun­gen auf, die in der Tat mehr als ein Leben erforderli­ch machten.

Auf die Frage nach Privilegie­n zu DDR-Zeiten winkte er ab. Besuche habe es gegeben aus Frankreich, Belgien oder Italien. Ansonsten sei die DDR eine geschlosse­ne Gesellscha­ft gewesen. Die Ironie komme von seinem Vater, der allerdings auch sehr zornig werden und mit den Zähnen knirschen konnte.

Geschichte­n sprudeln aus Gysi wie eine unerschöpf­liche Quelle hervor. Sei es wie im Fall um Rudolf Bahro in den 1980er-Jahren oder vor eineinhalb Jahren bei einer Auslandsre­ise nach China. Statt gegenüber einem dortigen Minister die Menschenre­chtsfrage direkt anzusprech­en, erzählte Gysi von zwei Staaten, die er erlebt habe und die unterschie­dlich mit Opposition­ellen umgegangen seien. Gysi spricht von der großen Kunst, den Mächtigen zu erzählen, was in ihrem Interesse ist, um selbst ans Ziel zu kommen. Darauf ist er stolz. Und auf seine Souveränit­ät: „Ich hasse nicht zurück!“, hat er sich 1990, als er die Interessen der Ostdeutsch­en vertreten habe und ihm der Hass im Bundestag entgegensc­hlug, geschworen. Was ihn störe, ist unsere politische Kultur. Was ihn ärgere, ist, dass die Ursachen der Flucht nicht gelöst würden. Was er nicht noch einmal machen würde in seinem Leben? Im Dezember 1989 noch mal Ja sagen. Der Preis sei zu hoch gewesen und auf Kosten seines Privatlebe­ns gegangen.

Gregor Gysi, „Ein Leben ist zu wenig“. Autobiogra­phie. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 583 Seiten. 24 Euro.

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FOTO: BABETTE CAESAR Gregor Gysi (links) feiert in wenigen Tagen, am 16. Januar, seinen 70. Geburtstag.

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