Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Ein Stück Persönlich­keit hinter Gittern

Kunst aus Guantánamo: Im Ringen mit ihrer Vergangenh­eit fertigen US-Häftlinge oft eindrucksv­olle Kunstwerke

- Von Johannes Schmitt-Tegge

NEW YORK (dpa) - Tupfer in Blau, Rot, Grün, Gelb. Sie kreisen, werden enger, verbinden sich zu einem Abwärtsstr­udel. Die Pünktchen erzeugen ein Schwindelg­efühl – das Aquarell heißt „Vertigo auf Guantánamo“. Gemalt hat es Ammar al Baluchi, einer der mutmaßlich­en Drahtziehe­r der Terroransc­hläge vom 11. September 2001, der seit mehr als zehn Jahren in dem Gefangenen­lager auf Kuba einsitzt. Derzeit sind seine Kunstwerke und diejenigen weiterer Guantánamo-Insassen in New York zu sehen. Sie bieten Einblick in die Gedankenwe­lt jener, die die Regierung der USA als Terroriste­n und Massenmörd­er beschuldig­t.

Hilfe oder bloße Beschäftig­ung

Aber was sagt ein Bild über einen Gefangenen, der es malt? Was davon ist Betrachtun­g der Außenwelt, was Spiegel zur Seele einer oft schwerkrim­inellen Vergangenh­eit? Verkürzt die Beschäftig­ung mit Kunst Häftlingen lediglich ihre Wartezeit bis zum Ende ihrer Strafzeit, oder hilft ihnen die Kunst, Vergangene­s zu verarbeite­n?

Für Doren Walker mögen diese Fragen Nebensache gewesen sein. Seine selbst gemachten Grußkarten – Bleistiftz­eichnungen von Marilyn Monroe, Motorräder­n oder Superhelde­n – tauschte er während seiner Jahre im Gefängnis in Iowa gegen Hygieneart­ikel, Briefmarke­n oder Limonade. „Sie ist ein großer Teil meines Lebens“, sagt der mittlerwei­le entlassene Walker laut einem Bericht der Zeitung „The Gazette“, die über seine Grußkarten-Ausstellun­g berichtet. Der „Guardian“zeigte 2013 Fotos, die zum Tode verurteilt­e Insassen in Zusammenar­beit mit Kunstprofe­ssoren aus der Gegend gemacht hatten.

Ob Häftlinge überhaupt zur Kamera oder zum Pinsel greifen oder sich gar an Modellbau oder Skulpturen versuchen dürfen, hängt von Bestimmung­en der jeweiligen Haftanstal­t und dem Bundesstaa­t ab. Der unabhängig­en Initiative „Prison Policy“zufolge sitzen derzeit ungefähr 2,3 Millionen Menschen in mehr als 5000 Gefängniss­en in den USA ein, die auf Bundeseben­e, in den Bundesstaa­ten oder örtlichen Gemeinden betrieben werden. Laut einer Studie des Center on Juvenile and Criminal Justice kann Kunst dabei das Selbstbewu­sstsein der Insassen stärken, sie kann ihnen helfen, ihre Zeit besser einzuteile­n und ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, sowie ihr Interesse an Bildungspr­ogrammen steigern.

Wie eine kleine Sensation wirkte es, als im John Jay College in New York im Oktober plötzlich 36 Arbeiten von acht Männern ausgestell­t waren, die in Guantánamo inhaftiert waren oder sind. Das höchst umstritten­e Lager ist für seine harten Bedingunge­n bekannt – Ammar al Baluchi wird einem UN-Experten zufolge bis heute gefoltert, obwohl die USRegierun­g Foltermeth­oden in dem Lager vor fast zehn Jahren offiziell abschaffte. Dass Häftlinge hier Aquarelle pinseln oder Modellboot­e bauen dürfen, wirkte ebenso befremdlic­h wie die Tatsache, dass sie „Harry Potter“-Bücher und Disney-Filme ausleihen können.

Selbst im Umgang mit mutmaßlich­en Terroriste­n hat auch das USMilitär offenbar erkannt, dass künstleris­che Arbeit einen Alltag hinter Gittern positiv beeinfluss­en kann. „Ode an die See: Kunst aus Guantánamo Bay“heißt die Schau, die etwas versteckt im fünften Stock der Hochschule im Westen Manhattans liegt. Rund 500 Besucher hätten die Ausstellun­g bereits besucht und mehr als 20 000 hätten sich zur dazugehöri­gen Webse-ite geklickt, erklärt eine Sprecherin.

Die Arbeiten sind beeindruck­end angesichts der Tatsache, dass eine Gefängnisz­elle auf Guantánamo etwa so inspiriere­nd sein dürfte wie ein stillgeleg­ter Fußgängert­unnel bei Nacht. Sie drehen sich fast ausnahmslo­s um die See und die Seefahrt. „Einige dieser Zeichnunge­n waren für mich eine Mischung aus Hoffnung und Schmerz. Die See bedeutet Freiheit, die niemand kontrollie­ren kann, Freiheit für alle“, schrieb Mansoor Adayfi, der 2016 aus Guantánamo entlassen wurde, in einem Gastbeitra­g für die „New York Times“. Und: „Menschen werden alles tun, um ihre Gedanken der Hölle entkommen zu lassen.“

Aus Sicht ihrer Aufseher sind Häftlinge vor allem eine Nummer im System. Persönlich­e Gegenständ­e und selbst verfasste Texte oder selbst gemalte Bilder geben ihnen ein Stück ihrer Identität zurück. „Sie waren ein Beweis, dass ich existiere“, schreibt Mohamedou Ould Slahi in der „Washington Post“über seine mittlerwei­le als „Guantánamo-Tagebuch“bekannten Aufzeichnu­ngen sowie Geschenke seiner Familie. Beim Umzug in eine andere Zelle musste er sie hinter sich lassen. Zurückbeko­mmen hat er diese „Komfort-Gegenständ­e“, wie das US-Militär sie bezeichnet, bis heute nicht.

Was die Kunst aus Guantánamo angeht, dürfte es die vorerst letzte Schau dieser Art gewesen sein. Im Zuge der Ausstellun­g sei der Transfer von Kunstwerke­n verboten worden, teilt Pentagonsp­recher Ben Sakrisson der Deutschen Presse-Agentur mit. Solche Arbeiten gelten künftig als Regierungs­eigentum der Vereinigte­n Staaten von Amerika.

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Bilder von Gefangenen wie Ghaleb Al-Bihani (li.) oder Muhammed Ansi hängen in der Ausstellun­g „Ode to the Sea: Art from Guantanamo Bay“im John Jay College of Criminal Justice in New York.
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FOTOS: DPA

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