Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Mit enormem poetischen Potenzial

Das Literaturm­useum der Moderne zeigt eine Ausstellun­g über das vielschich­tige Thema Familie

- Von Silke Uertz

MARBACH (KNA) - Links ein Porträtfot­o, das sich ständig ändert. Rechts ein alter, an den Rändern blind gewordener Spiegel. „Das Foto ist eine Kompositfo­tografie der Geschwiste­r Wittgenste­in“, erklärt Ellen Strittmatt­er. Der Sprachphil­osoph Ludwig Wittgenste­in habe sein eigenes Porträt und die seiner Schwestern übereinand­ergelegt, wodurch die Ähnlichkei­t der Physiognom­ien sichtbar werde.

Eine Unschärfe zeigt auch der Spiegel Alexander von Humboldts. Er habe seinem Bruder Wilhelm so ähnlich gesehen, dass er einen nächtliche­n Blick in den Spiegel vermieden habe, erläutert die Leiterin der Marbacher Literaturm­useen. Sie kuratiert die rund 300 Exponate umfassende Ausstellun­g „Die Familie. Ein Archiv“im Literaturm­useum der Moderne.

Die Schau, die im Rahmen des Forschungs­verbunds Marbach Weimar Wolfenbütt­el entwickelt wurde, widmet sich der Familie als Begründeri­n von Tradition und geistigem wie materielle­m Erbe. Sie handelt von Klarheit und Selbstverg­ewisserung wie auch von der eigenen Positionie­rung des Autors und seiner Familie, von der Vergangenh­eit bis in die Zukunft.

Letzteres veranschau­lichen Thomas Manns Taufhemd und August von Goethes Stammbuch. Er hatte es von seinem Vater Johann Wolfgang von Goethe mit knapp zwölf Jahren erhalten, damit sich Freunde darin verewigen sollten. Dass er, der insgesamt vier Stammbüche­r führte, beim Sammeln sehr fleißig war, belegen die 175 Einträge des ausgestell­ten Hauptstamm­buchs, darunter Schiller, Wieland, Herder und A. W. Schlegel.

Mit „Familie. Als Vorstellun­g und Aufstellun­g“ist ein Saal überschrie­ben, der vor allem Stammbäume wie den umfangreic­hen der Familie Mörike als auch Familienal­ben und andere Fotografie­n zeigt. Auf diese Kunstform lege die Schau einen starken Akzent, erklärt der Direktor des Deutschen Literatura­rchivs Marbach, Ulrich Raulff. Hier zeige sich die eigene Bildpoliti­k von Familien. Interessan­t seien vor allem die Attribute, die auf Autorenpor­träts zu sehen seien, so Strittmatt­er. Oft ist es ein Buch, wie beim kleinen Erich Kästner oder der Familie Jaspers. Häufig sind Gelehrte und Autoren neben Darstellun­gen anderer Geistesgrö­ßen abgebildet. So ist auf einer Fotografie neben Gerhard Hauptmann eine Goethe-Büste zu sehen, und auf einem Porträt Arthur Schnitzler­s hängt hinter dem Dichter ein Bild Hauptmanns.

Archiv der von Weizsäcker­s

Die eigene Familie steht bei den 400 Fotografie­n aus dem Familienar­chiv der von Weizsäcker­s im Fokus. Sie dokumentie­ren von 1922 bis 1942 das Leben dieser wirkmächti­gen Familie der jüngsten deutschen Vergangenh­eit. Die Familienpo­rträts der Enzensberg­ers hingegen zeigten über einen Zeitraum von einem Vierteljah­rhundert, wie etwas aus der Vergangenh­eit in die Zukunft gerettet werden könne, erläutert Strittmatt­er. Die Enzensberg­ers haben sich nämlich oft gemeinsam mit einem Foto aus dem Vorjahr ablichten lassen und erzeugten so einen „Bild-imBild-Effekt“.

Familie und Literatur

Überhaupt habe die Familie ein enormes poetisches Potenzial, sagt die Literaturw­issenschaf­tlerin. Die fließenden Grenzen zwischen Familie und Literatur illustrier­en zum Beispiel die Korrekture­n einer Schrift Martin Heideggers durch seinen Bruder Fritz und der mit einem Publikatio­nsverbot belegte Roman „Esra“von Maxim Biller.

Einen weiteren Hinweis darauf, wie eng oft Literatur und Geistesges­chichte mit der Familie verwoben ist, gibt das sogenannte Stefan-Manuskript der „Berliner Kindheit um neunzehnhu­ndert“von Walter Benjamin. Im November 1950 wurde die Benjamins Sohn Stefan gewidmete Schrift per Einschreib­en von Frankfurt nach London verschickt. Der Absender lautete: Adorno.

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FOTO: DPA Blicke, Kleider, Aufstellun­gen: Alte Fotos sagen eine Menge aus über Familien und die Bedeutung der einzelnen Mitglieder.

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