Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Die vergessene Seuche
Schnell, ansteckend, tödlich – Die Spanische Grippe traf die Menschen 1918 weltweit so schwer wie keine andere Pandemie der Moderne
Die Geschichte klingt wie das Drehbuch eines Horrorfilms, als hätte sie Hollywood erdacht: Ein mysteriöses Virus, das nicht zu stoppen ist, umrundet die Erde in kurzer Zeit, tötet Millionen Menschen, vor allem junge und gesunde Männer. Dabei ist es leider eine wahre Geschichte, die sich vor 100 Jahren abgespielt hat. Und in der es keine rettende Impfung gab – und kein Happy End.
Man nannte sie Spanische Grippe, obwohl sie vermutlich in den USA ihren Anfang nahm. Ihretwegen starben die Menschen reihenweise, besonders im Herbst 1918. Der Erste Weltkrieg (1914-1918) war in seiner Endphase, es gab so manchen Toten zu beklagen. Aber es war die Spanische Grippe, an der nach Schätzungen mehr Menschen umkamen als bei den Kampfhandlungen. Sie entwickelte sich in drei Wellen bis 1920 zur schlimmsten Grippe-Pandemie der Geschichte mit 27 bis 50 Millionen, manchen Quellen zufolge sogar bis zu 100 Millionen Toten.
Anders als bei anderen derartigen Katastrophen sucht man Denkmäler und Relikte jener Zeit nahezu vergeblich, selbst Fotos sind eher rar. Einer Art kollektivem Vergessen sei die vielleicht größte Vernichtungswelle der Menschheitsgeschichte anheimgefallen, heißt es in dem Buch „1918 – Die Welt im Fieber“der Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney, das am 29. Januar erscheint. Erst in jüngerer Vergangenheit sei die Spanische Grippe vermehrt ins Bewusstsein gerückt, auch weil sie zum Stoff von Büchern, Filmen und Serien wie „Downtown Abbey“wurde. Zuvor: nicht viel mehr als eine Fußnote des Weltkriegs.
Für Pandemie-Forscher ist die Spanische Grippe keineswegs vergessen. Die Experten wissen, dass die Gefahr einer weltweit grassierenden Grippe heute keineswegs gebannt ist, da Viren sich in ihrer genetischen Struktur rasend schnell verändern. Und es steht zu erwarten, dass die Menschen im Ernstfall wohl kaum so gleichmütig auf den Ausbruch massenhafter Erkrankungen reagieren würden wie damals. Von Gerüchten in sozialen Medien bis hin zu Fake News ist alles denkbar. Das sieht auch Grippeexpertin Silke Buda für den Fall zukünftiger Pandemien mit Sorge. Denn dafür böten Seuchen seit jeher Nahrung. Die Kommunikation im Krisenfall wäre für sich schon eine Herausforderung. Der Grat zwischen für die Bevölkerung glaubwürdigen, ernst zu nehmenden Aussagen – zum Beispiel zu Vorkehrungen zum Grippeschutz – und Alarmismus sei schmal. Budas Arbeitgeber, das Robert-Koch-Institut in Berlin (RKI), wäre in dem Fall gefragt. Das Institut plant auch für den Pandemiefall.
Aber wie realistisch ist es, dass sich die Geschichte wiederholt? Damals seien die Umstände andere gewesen als heute, betont Buda. „Genau die gleiche Situation wie 1918 wird so nicht mehr passieren.“Damals seien die Lebensbedingungen viel schlechter gewesen. Viele Menschen hatten auch zusätzlich schon andere Krankheiten wie Tuberkulose (Schwindsucht). Gegen oftmals tödliche bakterielle Lungenentzündungen, die auf die Grippe folgten, waren Ärzte machtlos: Antibiotika gab es noch nicht.
Gleichwohl gebe es heute andere Probleme, sagt Buda. Dazu gehörten zunehmende Antibiotikaresistenzen. Zudem könne der globale Reiseverkehr zu einer viel schnelleren Virusverbreitung führen als 1918. „Die Menschen werden heute zudem sehr viel älter als früher, haben dann aber oftmals Grunderkrankungen und sind anfälliger für schwere Krankheitsverläufe“, sagt sie.
Vor hundert Jahren sollen allein im Deutschen Reich einer Studie zufolge rund 426 000 Menschen der Grippe zum Opfer gefallen sein – das entspricht einer mittleren Großstadt, einfach ausradiert. „Bei unserem heutigen Gesundheitssystem wäre das unerträglich, praktisch nicht vorstellbar“, sagt die Grippeexpertin. Indien und Südafrika hatte es noch sehr viel heftiger erwischt. Und längst nicht aus allen Ländern gibt es überhaupt Daten, an Erfassungen nach heutigem Maßstab war damals nicht zu denken.
Aussagen über das ganze Ausmaß der Pandemie sind daher schwer zu treffen. Aus einer mündlichen Kultur überliefert ist die Wendung „Morgens krank, abends tot; abends krank, morgens tot“. Das sollen Einwohner einer Stadt auf Java Forschern in den 1980er-Jahren berichtet haben, schreibt der Berliner Historiker und Oberarzt der Charité, Wilfried Witte („Tollkirschen und Quarantäne. Eine Geschichte der Spanischen Grippe“). Er hat über die Pandemie geforscht. Wie Witte meint, hatte damals alles relativ harmlos begonnen. Während der ersten Ansteckungswelle im Frühjahr 1918 – der Erste Weltkrieg ging dem Ende entgegen – erkrankten zwar sehr viele Menschen, aber relativ wenige starben. Im Herbst nahm allerdings eine weitere, diesmal tödliche Welle ihren Lauf. Gerade dort, wo Menschen geballt aufeinandertrafen, wie in Soldatenund Kriegsgefangenenlagern, hätten sich auf einen Schlag massenhaft Menschen angesteckt. Die Betroffenen litten unter hohem Fieber, rasenden Kopf- und Gliederschmerzen. Schwerkranke bluteten aus Nase und Ohren oder spuckten Blut. „Die meisten sind an einem akuten Lungenversagen gestorben. Das ging rapide schnell vonstatten“, sagt Witte. Therapien wie invasive Beatmung standen Ärzten noch nicht zur Verfügung. Wenn überhaupt, hätten Kranke Mittel zur Kreislaufstärkung bekommen. „So etwas hat natürlich nicht geholfen“, so Witte.
Selbst der spanische König soll an dem damals noch unbekannten Erreger erkrankt sein. Es ist ein Grund, aus dem die Pandemie als „Spanischen Grippe“in die Geschichte einging. Dass sie nicht von dort kam, ist aber relativ sicher. Um den wahren Ursprung ranken sich mehrere Theorien. Witte zufolge wird angenommen, dass im März 1918 zuerst Schüler und Soldaten in Kansas, USA, an Grippe erkrankten. Mit Truppenschiffen soll das Virus auch nach Europa gelangt sein. Die Menschen steckten sich durch winzige Tröpfchen beim Husten oder Niesen reihenweise an, wohl jeder Ort hatte Opfer zu beklagen. Im Südwesten traf es – wie im gesamten Deutschen Reich – große Städte stärker als den ländlichen Raum. Laut einer Statistik starben 1918 etwa in Stuttgart 4,8 Promille der Bevölkerung. Hier wie in anderen Städten erlagen drei- bis viermal so viele Menschen schweren Atemwegserkrankungen als sonst.
Die Krankenhäuser waren überfüllt, Ärzte sahen bei Infizierten gewisse Muster: Nicht nur starben ungewöhnlich oft vermeintlich robuste Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Auch hatte sich die Haut der Erkrankten oft dunkelblau verfärbt – Zeichen der Unterversorgung mit Sauerstoff, wie Witte sagt. Wegen des fast schon schwarzen Teints hätten sich die Menschen an die Pest erinnert gefühlt. Dass der „schwarze Tod“wieder umgehe, war nur eines der damals kursierenden Gerüchte.
Die Medizin war ratlos. Zeitgenössische Ärzte hielten ein „GrippeBakterium“für die Ursache, obwohl man diese Theorie damals schon anzweifelte. Der wahre Auslöser, das Influenzavirus, sollte erst 1933 entdeckt werden.
Klar ist für Experten: Es muss nicht zwangsläufig im Winter zu einer Pandemie kommen. Ganzjährig hat das RKI deshalb ein Auge auf akute Atemwegserkrankungen. Auch potenziell pandemische Viren weltweit sind im Blick: „Es ist eher wahrscheinlich, dass ein Virus sich im Moment in Vögeln oder Schweinen vermehrt und noch nicht die Fähigkeit hat, von Mensch zu Mensch übertragbar zu sein“, sagt Buda. Das größte Pandemie-Potenzial werde aktuell dem Vogelgrippe-Virus H7N9 in China zugeschrieben. „Aber diese Einschätzung bedeutet noch lange nicht, dass es dieses Virus dann sein wird“, betont Buda. Der Mensch kann sich in Asien bei engem Kontakt mit Geflügel mit diesem Virus anstecken, fortlaufende Mensch-zuMensch-Übertragungen sind aber noch nicht vorgekommen. Zuletzt in Deutschland nachgewiesene Vogelgrippe-Viren bei Geflügel gelten als wenig risikoreich für den Menschen.
Schweinegrippe von 2009
Kommt eine neue Pandemie, kann das auch bedeuten, dass Experten früher oder später die Weichen für Impfungen mit einem eigens dafür gefertigten Impfstoff stellen – wie bei der Schweinegrippe 2009. Sie erwies sich zwar im Nachhinein als weit harmloser als zunächst angenommen. Etliche Länder hatten sich jedoch mit Impfdosen eingedeckt, für Milliardensummen. In Deutschland wurde das zum Flop. Trotz entsprechender Empfehlungen ließen sich kaum Menschen impfen.
An der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es Kritik, sie habe die Pandemie übereilt zu einer mit der höchsten Gefahrenstufe ausgerufen. Eine der Lehren: Die Schwere des Geschehens werde differenzierter und von den Ländern selbst eingeschätzt, erläutert Buda. Denkbare Maßnahmen im Ernstfall seien zum Beispiel, dass Schulen geschlossen, Großveranstaltungen abgesagt und planbare Operationen verschoben werden – um Krankenhäuser zu entlasten.
Auch bei einer globalen Seuche wie der von 1918 wird oft vergessen, dass es die Länder unterschiedlich heftig traf. Im stark betroffenen Indien etwa gab es damals zeitgleich eine Hungerkatastrophe. Auch die gesundheitliche Verfassung der Menschen spielt eine Rolle: 1918 traf das Virus die Immunsysteme der Menschen offenbar eher unvorbereitet.
Forscher fanden zudem Hinweise, dass der damalige Erreger bei Infizierten eine Überreaktion des Immunsystems auslöste, so dass die Abwehrkräfte sich gegen eigenes Körpergewebe richteten. Das schrieben Genetiker 2007 im Journal „Nature“. Sie erklärten so auch die starke Betroffenheit der Menschen mittlerer Altersgruppen: Deren in der Regel starken Abwehrkräfte hätten ihnen mehr geschadet als genutzt.
Die Spanische Grippe gibt Forschern also noch nach Jahrzehnten zu denken. Gerade die Spurensuche von Virologen Ende der 1990er-Jahre sieht Experte Witte als einen Grund für das relativ junge Phänomen einer latenten Grippeangst. Denn die Forscher hätten die tödliche Welle von 1918 nicht mehr als Einzelfall bewertet, sondern als Prototyp einer gefährlichen Pandemie.
Buchtipps:
Wilfried Witte: „Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe“. Wagenbach, 2010. 122 Seiten, 10,90 Euro. Laura Spinney: „1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte“. Hanser Verlag, 2018.
384 Seiten, 26 Euro. Erscheinungsdatum: 29. Januar.