Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
EU-Angebot an Großbritannien stößt auf wenig Gehör
Dass EU-Ratspräsident Donald Tusk Großbritannien einen Verbleib in der Europäischen Union angeboten hat, ist weitgehend verhallt. Sollten die „britischen Freunde“ihre Haltung ändern, stünden ihnen die Herzen der Kontinentaleuropäer offen, sagte Tusk am Dienstag im EU-Parlament in Straßburg. Andernfalls werde der Brexit im kommenden Jahr allerdings Realitat – mit all seinen negativen Folgen. EU-Kommissionspräsident JeanClaude Juncker ergänzte kurz darauf, er hoffe, die Botschaft Tusks komme in der britischen Regierung an.
Wie im Europäischen Parlament gab es auch in London darauf lediglich gedämpfte Reaktionen. Viele Medien spielten die Bedeutung der Rede des EU-Ratspräsidenten herunter, weder von der Regierung noch von der Opposition gab es offizielle Stellungnahmen. Hinterbänkler im Unterhaus demonstrierten die anhaltende Spaltung des Landes: Während Pro-Europäer mit Begeisterung reagierten, nannte der konservative EU-Hasser Bernard Jenkin Tusks Idee „absurd: Kein ernsthafter Mensch in diesem Land will nochmal abstimmen.“
Seit Jahresbeginn haben wichtige politische Akteure einem zweiten Urnengang das Wort geredet. Dazu gehören der langjährige Labour-Premierminister Tony Blair sowie dessen einflußreicher früherer Mitarbeiter Lord Andrew Adonis. Das Labour-Mitglied des Oberhauses trat vom Vorsitz einer Regierungskommission zurück, um freier gegen den harten Brexit-Kurs von Premierministerin Theresa May argumentieren zu können. Vergangene Woche brachte kurioserweise auch die Brexit-Galionsfigur Nigel Farage, einst Vorsitzender der EU-feindlichen Ukip, ein zweites Referendum ins Gespräch, widersprach sich allerdings tags darauf wieder. Immerhin brachte es der EU-Parlamentarier durch seine Manöver nach monatelanger Funkstille wieder einmal zu zahlreichen Medienauftritten.
Tusk betonte in seiner Rede vor dem Straßburger Parlament die negativen Folgen des Brexits für beide Seiten. Listig zitierte der EU-Ratspräsident den britischen Brexit-Minister und langjährigen EU-Gegner David Davis: „Wenn eine Demokratie ihre Meinung nicht ändern kann, hat sie aufgehört, eine Demokratie zu sein.“
Medien spielen Äußerung herunter
Die öffentlich-rechtliche BBC spielte die Intervention am Dienstag herunter. In den Nachrichtensendungen wurde Tusk entweder gar nicht erwähnt oder davon gesprochen, er habe „erneut“die Offenheit der EU betont. Die konservative Times titelte, der Pole habe „ein zweites Referendum gefordert“. Hingegen echote der Labour-Abgeordnete Chuka Umunna Tusks Rede: Anders als von May behauptet, die den Brexit „irreversibel“genannt hatte, dürften seine Landsleute „ihre Meinung ändern“, teilte der Pro-Europäer in einer Aussendung des Thinktanks Open Britain mit.
Die Öffentlichkeit verhält sich abwartend. Jüngste Umfragen ließen zwar den Schluss zu, das Verhältnis von Gegner und Befürwortern des Brüsseler Clubs habe sich seit dem Referendum (52:48 für den Austritt) umgekehrt. Die Firma ComRes sah gestern die EU-Befürworter sogar mit 55:45 Prozent vorn. Unklar bleibt aber, ob die Briten mehrheitlich überhaupt eine zweite Volksabstimmung binnen zwei Jahren anstreben.
Die Regierung konzentriert ihre Anstrengungen darauf, möglichst rasch die Parameter jener Interimsphase bis Ende 2020 abzustecken, um die sie in Brüssel gebeten hat. Londoner Vorstellungen zufolge sollen die Konditionen bis Ende März festgelegt werden; hingegen heißt es aus dem Umfeld des EUChefunterhändlers Michel Barnier, die Verhandlungen würden wohl bis Mitte des Jahres dauern.