Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Zwischen Plan und Realität
Vittorio M. Lampugnanis Buch „Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert“ist prächtig und gehaltvoll
Der Mann zögerte nicht lang. Kaum hatte der Barockpapst Sixtus V. sein Amt angetreten, begann er aufzuräumen. „Mit unbarmherziger Zielstrebigkeit, aber auch mit pragmatischem Weitblick“sei er ans Werk gegangen: Durch kilometerlange Straßenachsen, die rücksichtslos durch vorhandene Stadtviertel getrieben wurden, verband er die acht Hauptkirchen Roms und veränderte in einem kurzen, ereignisreichen Pontifikat (1585-1590) das Gesicht der ewigen Stadt von Grund auf. Sixtus machte die über Jahrhunderte wild wuchernde Stadt übersichtlich und zugänglich. Bis heute wurde sein Entwurf nicht wesentlich verändert.
Sixtus V. ist einer der prototypischen Helden von Vittorio M. Lampugnanis wunderbarem Buch „Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert“: in seiner Entschlossenheit, seinem Mut zum Visionären, und der Geschmeidigkeit in deren Verwirklichung. Nur mit diesen Eigenschaften, schreibt der Autor, können Städte den Ansprüchen ihrer Bewohner genügen.
Europäisches Erfolgsmodell
„Nicht nur sicher, sondern auch glücklich“, so forderte bereits Aristoteles, sollte das Zusammenleben in der Stadt sein. Das Thema der Stadt ist seit jeher die Frage danach, wie wir zusammenleben können. Es ist damit auch immer eine Frage der Entwürfe, der Pläne, denen sich das Vorhandene beugen muss. Von „gestalteter Umwelt“spricht Lampugnani, vom „künstlich geformten Artefakt“, und zeigt, dass es Schachbrettmuster und geometrisch aufgebaute Stadtentwürfe schon ein halbes Jahrhundert vor Christus gab. Voller Sorgfalt und Freude an Detail sowie an Widerspruch erzählt der Autor die Geschichte des Spannungsverhältnisses zwischen Plan und Realität.
Die Stadt ist das europäische Erfolgsmodell schlechthin: Kultur und Kunst des Kontinents entstanden dort, die bürgerliche Mittelklasse und auch Freiheit und Demokratie waren zuallererst städtische Erfindungen – von den antiken Poleis („Die Wurzeln der modernen Stadt“) über die Stadtrepubliken der frühen Neuzeit bis hin zu den modernen Städten als Keimzellen der bürgerlichen Revolution. Stadtplanung und Bauweise bis hin zum Design der Fassaden privater Gebäude drückten solche historischen Entwicklungen ihren Stempel auf.
Es werde „gar nicht erst der Versuch einer linear zusammenhängenden, geschweige denn erschöpfenden Erzählung unternommen“, schreibt der Autor. Es offenbare sich aber in der Geschichte, „dass sich die Städte der Vergangenheit, den tiefen Wandlungen zum Trotz, auch mit unserem zeitgenössischen Leben verbinden“.
Vittorio Magnago Lampugnani ist selbst Architekt. Zugleich hat der 1951 geborene Römer an seinem Lehrstuhl in Zürich, wo er mehr als 20 Jahre lehrte, und zuvor am Deutschen Architektur-Museum in Frankfurt selbst immer Praxis und Theorie aufeinander bezogen. Und damit gezeigt, dass Architektur immer vom Ganzen des menschlichen Lebens handelt.
Geburt aus der Katastrophe
Dieses Buch ist die Summe seines Lebenswerks: Viel Aufmerksamkeit liegt auf der Frühen Neuzeit, in der mit den Idealstädten der Renaissance, erste Kompositionen des Zusammenlebens praktisch umgesetzt wurden. Im Barock wurden Städte um Schlösser, Festungsbauten und Paradeplätze erweitert – vormoderne „Fashion Statements“, in denen nicht der Nutzen der Gebäude, sondern die Inszenierung von Macht und Regierungsstilen im Zentrum stand. Auch Katastrophen konnten zur Geburtsstunde einer strahlenden Zukunft werden, so geschehen beim Neuaufbau zerstörter Städte in der Zeit der Aufklärung wie in Lissabon und Catania.
Modernisierung paarte sich oft mit Repression – bei den Neuplanungen von Paris im Zweiten Kaiserreich, aber auch der Ringstraßenanlage von Wien ging es ebenso sehr darum, die Stadtarchitektur möglichst demonstrationsverhindernd zu gestalten, wie darum, den Repräsentationswünschen der neuen, tonangebenden Klasse des Großbürgertums, die durch die Revolutionen erst an die Macht gekommen war, zu entsprechen.
So wie die ganze deutsche Nation „verspätet“(Hellmuth Plessner) war, beschreibt Lampugnani auch das preußische Berlin als „verspätete Hauptstadt“. Die modernste europäische Stadt vor der Moderne findet er überraschenderweise in Barcelona, die ihr Wachstum bereits im Stadtentwurf vorweggenommen hat, wie das sonst nur amerikanische Städte tun.
Das Buch selbst entspricht seinem Gegenstand: Ein fantastischer Band, der erst einmal zeigt, warum kein E-Book die Erfahrungen eines richtigen Buches ersetzen kann. Es liegt gut in der Hand, lädt zum Stöbern und Blättern in beide Richtungen ein. Auf jeder der über 300 Seiten begegnet man Gemälden und Zeichnungen, Plänen und Fotografien – alle prachtvoll, viele farbig, der Text gespickt mit Geschichten, Anekdoten, kleinen Beobachtungen, in denen man sich immer wieder festlesen kann – eine lustvolle Erfahrung!
Vittorio M. Lampugnani: Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert. Urbane Entwürfe in Europa und Nordamerika, Wagenbach Verlag 2017, 384 Seiten, 350 Abbildungen, 78 Euro (bis 31.1.2018), dann 98 Euro.