Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Evangelische Stadtkirche wird zum Gasthaus
Rund 400 Essen gehen am ersten Tag der Ravensburger Vesperkirche über die Theke – Lobby für die Alten und Armen
RAVENSBURG - Der erste Tag der Vesperkirche ist verhältnismäßig ruhig gestartet: Um die 400 Essen sind in der Evangelischen Stadtkirche in Ravensburg am Montag verkauft worden. An den langen Tischen saßen Richter neben Obdachlosen, 90-Jährige neben Neunjährigen, Arme neben Reichen. In der Masse gab es zwischen ihnen keinen Unterschied – und doch hatte jeder seine Gründe, warum er hier war.
„Ich komme nicht wegen des günstigen Essens, sondern weil man bei der Vesperkirche unter Leuten ist“, sagt Helga Duédal. Die 85-jährige Ravensburgerin ist eine imposante Erscheinung: Mit frisch gemachten Haaren, einem roten Blazer und mit roten Glitzerfingernägeln sitzt sie an einem Tisch in der Nähe der Essenausgabe. „Wir haben immer den gleichen Platz“, erklärt sie freundlich. Mit „Wir“meint Duédal sich und ihre Seniorenfreundinnen. Die 85-Jährige ist schlecht zu Fuß. Mit ihrem Rollator sei sie in die Kirche gekommen, sagt sie. Das Gefährt steht nun neben ihr. Fast jeden Tag seien sie und die anderen Seniorinnen da, so Duédal: „Wir kommen immer früh, schon so um 11 Uhr.“
Ort der Kommunikation
Früh da ist auch schon Stadtrat Rolf Engler. Der CDU-Politiker hilft an diesem Tag mit, Getränke auszuschenken und süße Stückchen zu verteilen – genauso wie der Ravensburger Landrat Harald Sievers und dessen Stellvertreterin Eva-Maria Meschenmoser. Für die drei ist die Mithilfe Ehrensache. „So kommt man mit den Menschen ins Gespräch und hört, wo die Probleme liegen“, meint Stadtrat Engler. Seiner Meinung nach ist es essenziell, dass die alten und armen Menschen mehr gehört werden. „Denn sie haben keine Lobby“, stellt Engler fest.
Für Landrat Sievers ist die Vesperkirche „ein großartiger Ort der Begegnung und Kommunikation“. Das diesjährige Motto der Vesperkirche, Altersarmut, findet er wichtig: „In diesem Thema steckt eine Dynamik, und es wird in Zukunft noch größer werden“, meint er – zumal die Altersarmut in der vielfältigen Stadtgesellschaft von Ravensburg und Weingarten ebenfalls eine Rolle spiele. „Wir haben hier soziale Herausforderungen, mit denen wir uns befassen müssen“, so der Landrat.
Luxusausgaben nicht möglich
Die Ravensburgerin Veronika Reich kann aus eigener Erfahrung berichten, wie es ist, arm zu sein. Die 58Jährige ist alleinerziehende Mutter von sechs Kindern. Sie hat immer gearbeitet, ist dann krank geworden. Heute bleiben ihr 350 Euro im Monat, um über die Runden zu kommen. Luxusausgaben wie ein Friseurbesuch sind da nicht drin. Umso mehr freut sich Reich darüber, dass sie sich bei der Vesperkirche von einem Profifriseur kostenlos die Haare schneiden lassen kann. „Mit einer schönen Frisur fühlt man sich gleich viel besser“, strahlt die 58-Jährige.
Das sieht auch Friseurin Alexandra Frater-Pabst aus Weingarten so. „Ich zauber’ den Leuten etwas Schönes auf den Kopf und ein Lächeln ins Gesicht“, beschreibt sie ihre Arbeit. Bei der Vesperkirche im Akkord Haare zu schneiden, macht ihr überhaupt nichts. Im Gegenteil. „Meine Motivation ist, Menschen zu helfen, denen es nicht so gut geht“, sagt Frater-Pabst. „Deshalb gebe ich
10 Jahre Vesperkirche
Erster Tag ihnen das, was ich am besten kann: einen guten Haarschnitt.“Während sie der Frisur von Veronika Reich noch den letzten Schliff versetzt, sitzen draußen schon die nächsten vier Kunden auf der Wartebank.
„Danke“sagen
Etwas zurückzugeben, ist das Anliegen von Edeltraut Fassnacht
Über die 65-Jährige hat die „Schwäbische Zeitung“bereits im August 2017 berichtet. Die Diakonie Ravensburg hatte ihr damals dabei geholfen, dass ihre vergilbte Küche gestrichen wurde. Über die SZ-Nothilfe hatte Fassnacht zudem einen neuen Kühlschrank bekommen. Nun will die 65Jährige „Danke“sagen – und macht das, indem sie bei der Vesperkirche zweimal die Woche aufräumt und putzt. „Eine Hand wäscht die andere“, beschreibt Fassnacht.
Für Martina Pastuovic, die mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Sohn die Vesperkirche besucht, ist die dortige Stimmung etwas ganz Besonderes: „Hier zählen keine gesellschaftlichen Hierarchien, jeder redet mit jedem über alles Mögliche“, schildert die 34 Jahre alte Ravensburgerin, „und es nimmt einem die Scham vor dem Ganzen, wenn man sieht, dass alle hier sitzen.“
Was Studenten an der Vesperkirche fasziniert, sehen Sie in einem Video unter www.schwaebische.de/ vesperkirche. Dort finden Sie auch alle Beiträge zu der diesjährigen Veranstaltung.