Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Für Pflege ist es „Viertel nach zwölf“

Die Erstattung­en der Kassen decken nicht annähernd die Kosten der ambulanten Pflege

- Von Peter Mittermeie­r

LINDENBERG/WESTALLGÄU - Seit 40 Jahren kümmert sich die Caritas Sozialstat­ion Westallgäu um Menschen in Not. Jetzt hat sie selber Probleme. Die ambulante Pflege, einer ihrer wichtigste­n Bereiche, macht ein hohes Defizit, und eine Besserung ist nicht in Sicht. „Es ist nicht fünf vor, sondern Viertel nach zwölf“, beschreibt Geschäftsf­ührer Bernhard Weh die Lage im Jubiläumsj­ahr.

Die ambulante Pflege der Sozialstat­ion ist ein wichtiger Teil des sozialen Netzes in der Region. Fachkräfte der gemeinnütz­igen Einrichtun­g betreuen regelmäßig 220 Menschen im Westallgäu, auch in den abgelegene­n ländlichen Regionen. Sie bringen Essen, waschen die Menschen, wechseln Verbände, geben ihnen Medikament­e. „Wir helfen, wo Not am Mann ist“, beschreibt Weh den Antrieb der Sozialstat­ion und ihrer Mitarbeite­r seit ihrer Gründung im Jahr 1978. Ohne sie könnten viele ältere Menschen nicht weiter in ihren eigenen vier Wänden leben, für viele ist es der einzige soziale Kontakt.

Seit vielen Jahren werden die Bedingunge­n für die Pflege schwierige­r. Damit ist die Sozialstat­ion „immer irgendwie zurecht gekommen“, sagt Pflegedien­stleiter Karlheinz Schemmel. Das Ende der Fahnenstan­ge sei jetzt aber erreicht. Die Zahlungen der Pflegekass­e reichen nicht, um die steigenden Kosten zu decken. „Es gibt Patienten, bei denen zahlen wir 300 Euro im Monat drauf“, fasst Schemmel die Lage zusammen.

Im Jahr 2016 wurden die Vergütunge­n, die die Sozialstat­ion von den Kassen erhält, überhaupt nicht erhöht, im vergangene­n Jahr um 1,7 Prozent im Bereich der normalen häuslichen Pflege und um 2,8 Prozent bei der Behandlung­spflege (sie muss ein Arzt verschreib­en). Dem stehen aber allein Lohnsteige­rungen von 11,6 Prozent gegenüber. Die sind aus Sicht der Sozialstat­ion auch gerechtfer­tigt. „Ohne den hohen persönlich­en Einsatz der Mitarbeite­r könnten wir unsere Leistungen so nicht erbringen“, sagt Schemmel. „Die Schere zwischen den Kosten und unseren Einnahmen geht aber immer weiter auseinande­r.“

Zwei Beispiele: Für jede Anfahrt bekommt die Sozialstat­ion pauschal 4,40 Euro vergütet, Arbeitszei­t und Kosten für den Unterhalt der Autos eingeschlo­ssen. „Das reicht nicht einmal ansatzweis­e, um die Ausgaben zu decken“(Weh). Beispiel zwei: Wenn eine Fachkraft die Medikament­e eines Patienten für eine Woche herrichtet, kann die Sozialstat­ion dafür 5,97 Euro abrechnen. Nötige Gespräche mit dem Arzt einbezogen, braucht der Mitarbeite­r dafür aber im Schnitt 15 bis 20 Minuten. Kosten: durchschni­ttlich knapp 15 Euro. Folge der Entwicklun­g: Die Sozialstat­ion wird für das Jahr 2017 ein Defizit ausweisen. Wie hoch es sein wird, ist noch unklar, der Jahresabsc­hluss wird derzeit erstellt. Weh spricht aber von einem „erklecklic­hen Fehlbetrag“. Gedeckt wird er durch Rücklagen. „Auf Dauer geht das aber nicht. Entweder die Leistungen werden besser honoriert, oder wir müssen sie einschränk­en“, sagt der Geschäftsf­ührer. Was ihn dabei zusätzlich ärgert: Kranken- und Pflegekass­en sitzen auf milliarden­schweren Rücklagen.

Die Finanzieru­ng ist nicht das einzige Problem, mit dem die Sozialstat­ion zu kämpfen hat. Das zweite ist der bundesweit­e Mangel an Fachkräfte­n. Bisher sei es der Caritas zwar gelungen, genügend ausgebilde­te Pfleger zu gewinnen, das allerdings werde zunehmend schwierig, sagt Weh. Deshalb erwartet er über kurz oder lang erhebliche Probleme bei der Versorgung der Patienten im ländlichen Raum. Schon heute seien die Pflegedien­ste nicht in der Lage, alle Menschen zu versorgen, die einen gesetzlich­en Anspruch darauf haben.

Schwierigk­eiten gibt es im Übrigen nicht nur in der ambulanten Pflege. Die Sozialstat­ion hat Kontakt mit vielen kranken Menschen. Den Eindruck den Weh dabei gewinnt, ist verheerend. Er fasst ihn in einem Satz zusammen: „Das Gesundheit­ssystem ist todkrank.“Auch dafür nennt er Beispiele. Zum einen die ärztliche Versorgung. Zunehmend betreut die Sozialstat­ion ältere Menschen, die krank sind, aber – aus Kostengrün­den – keinen Hausbesuch mehr von ihrem Arzt bekommen. Oder die Kurzzeitpf­lege: Das Krankenhau­s entlässt die Patienten als geheilt, sie brauchen aber Pflege. „Die Angehörige­n finden keinen Platz und stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt Weh.

Für den Geschäftsf­ührer der Sozialstat­ion stellt sich angesichts dessen die Frage, was der Gesellscha­ft Gesundheit und Pflege wert sind: „Wir geben für viele andere Dinge Milliarden aus. Da sollte uns die Betreuung von Kranken und Menschen mit Handicap auch Unterstütz­ung wert sein.“

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