Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Aus dem Takt
Der Regionalverkehr im Südwesten präsentiert sich in diesen Tagen desolat – Widersprüchliche Schuldzuweisungen
EHINGEN - Die Welt im Allgemeinen und jene der Bahnfahrer im Speziellen scheint an diesem frühen Morgen am Bahnhof Ehingen in Ordnung. Die Schneewehen haben sich abrupt in die Dunkelheit verabschiedet, Teenager senken ihre Köpfe über Smartphones und pusten die Dunstwolken ihrer Kippen in die klare Luft. Eine Amsel pickt sich den Weg durch die vielen Beine der Wartenden. Und ja, die Regionalbahn Richtung Ulm kommt pünktlich, sie spuckt eine Vielzahl von Schülern aus und nimmt neue auf, Platz findet aber ein jeder. Keine Fata Morgana, aber auch alles andere als die Regel, wie der elfjährige Tim, der in die Hauptschule nach Allmendingen will, erklärt: „Stehen. Immer wieder müssen wir die ganze Fahrt lang stehen.“Was schon immer so war? „Nein. Früher war es viel besser.“Eine Dame vis-avis bestätigt kopfschüttelnd: „Chaotisch. Einfach nur chaotisch.“
Eltern protestieren in Laupheim
Chaotisch. Desolate Situation. Untragbare Zustände. Unverschämtheit. So oder so ähnlich lauten die aktuellen Einschätzungen von Pendlern, aber auch von Politikern, über den Regionalverkehr im Südwesten, über die Südbahn, die Donautalbahn, die Bodenseegürtelbahn. Erst Anfang der Woche haben sich aufgebrachte Eltern in Laupheim getroffen, um ihrem Ärger Luft zu machen, bleiben in diesen Tagen doch massenweise Schüler auf den Bahnsteigen stehen, weil in die voll besetzten Züge kein Blatt Papier mehr passt. Tenor der verärgerten Eltern: „So geht es nicht mehr weiter.“
Das sieht auch Alb-Donau-Landrat Heiner Scheffold (parteilos) so. Er berichtet aus eigener Erfahrung über die Strecke Ehingen-Ulm, in den frühen Morgenstunden habe seit Anfang des Jahres schon ab Bahnhof Herrlingen der Zug keine weiteren Fahrgäste mehr aufnehmen können. Vergangene Woche hat sich der Landrat in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratsvorsitzender der Donau-Iller-Nahverkehrsbund-GmbH in einem Brandbrief an Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) gewandt und „mangelnde Kapazitäten der Nahverkehrszüge“kritisiert. Die Züge seien mit zu wenig Waggons ausgestattet, mal ganz abgesehen von den Qualitätsproblemen bei den Triebwagen. Als Ursache hinter den Problemen vermutet der Landrat das seit 2016 praktizierte Ausschreibungsverfahren im Schienennahverkehr. „Dabei wurden die erforderlichen Kapazitäten gerade in der Hauptverkehrszeit offensichtlich zu knapp kalkuliert“, so Scheffold. Möglicherweise sei dies geschehen, um mit den eingesparten Mitteln in Nebenverkehrszeiten im Rahmen des „Zielkonzeptes 2025“Züge bestellen zu können. „Was aber nutzt ein von Ihrem Haus als Erfolg der Neuausschreibung bezeichnetes neu eingerichtetes Grundangebot in Randzeiten, etwa nach 20 Uhr, wenn zu den Zeiten, in denen die Menschen Züge benötigen, die Kapazitäten in unserem Verbundraum und an anderen Stellen im Land nicht ausreichen“, fragt der Landrat.
Ganz ähnliche Probleme gibt es auf der Bodenseegürtelbahn. Ohnehin nur eingleisig betrieben, mit Dieselloks ausgestattet und lediglich im Stundentakt angeboten, hat sich die Situation zuletzt verschärft, wie Landrat Lothar Wölfle (CDU) kritisierte: „Auf der Bodenseegürtelbahn geht es mittlerweile nur noch darum, dass die Leute überhaupt noch in den Zug, der gerade im Berufsverkehr meist nur aus einem einzigen Triebwagen besteht, hinein kommen.“Und auch hier klagt das Landratsamt über Kapazitätseinsparungen. „Zu wenige Waggons, diese in zum Teil schlechtem Zustand, Zugausfälle und Unpünktlichkeit“, diagnostiziert Wölfle. Adressat der Kritik ist einmal mehr das Verkehrsministerium. So haben eine im Kreistag veröffentlichte Analyse des bodo-Geschäftsführers Jürgen Löffler gezeigt, heißt es in einer Mitteilung des Bodenseekreises von Ende Dezember, „dass das Land Wagenkapazitäten auf der Bodenseegürtelbahn gezielt abbestellt hatte, einige davon sogar im Berufsverkehr. Im Kreistag war dazu häufiger das Wort ,Skandal‘ zu hören.“
Von Skandal will das Landesverkehrsministerium nichts wissen, auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“heißt es,
„die Analyse des bodo-Geschäftsführers entspricht nach Kenntnisstand des Verkehrsministeriums nicht in allen Punkten der tatsächlichen Sachlage“. Die erwähnten Kapazitäten seien schon früher abgebaut worden und neue bis „auf zwei Ausnahmen außerhalb der Hauptverkehrszeiten und an Wochenenden durchgeführt“worden. „Nachsteuerung bei den Zugkapazitäten“seien allerdings möglich.
In scharfem Ton stellt das Ministerium zudem fest: „Für den Bereich der Donautalbahn beziehungsweise für die Südbahn auf den Strecken Ehingen-Ulm und Ulm-Biberach weisen wir den Vorwurf des Landrates (Scheffold) mit Nachdruck zurück.“Verantwortlich für diese Strecken seien die Eisenbahnverkehrsunternehmen RAB (Tochter der DB Regio), die „derzeit massive Probleme bei der Wartung und Instandhaltung der Dieseltriebfahrzeuge“hätten. „Der RAB stehen damit zu wenige Fahrzeuge zur Verfügung, um für alle vereinbarten Fahrten die nach den Verträgen vorgegebenen Fahrzeugkapazitäten einhalten zu können.“Der Laie wird sich an dieser Stelle fragen: Wer hat denn nun Schuld, das Ministerium mit einem mangelhaften Ausschreibungsverfahren oder die Deutsche Bahn? Die Wahrheit liegt wie sooft wohl in der Mitte, will man der Argumentation von Matthias Lieb, Verkehrsclub Deutschland und Vorsitzender des Fahrgastbeirates, folgen. Er sieht „allgemeine Versäumnisse“wie eingleisige und nicht ausgebaute Strecken, veraltete Triebwagen, aber auch negative Folgen der Ausschreibungen. So seien die benötigten Kapazitäten vom Land wohl in der Regel richtig berechnet worden, allerdings habe die Bahn den Zuschlag für besagte Strecken nur über Preissenkungen erhalten, was einen Kostendruck nach sich gezogen habe. In der Folge habe das Unternehmen Fahrzeuge angeschafft, die nicht der üblichen Qualität entsprechen. Und nun zusammen mit alten und gebrauchten Fahrzeugen regelmäßig in der völlig überlasteten Ulmer Werkstatt stehen. Zumindest indirekt hätte das Ausschreibungsverfahren damit zu den Mängeln beigetragen.
Die Bahn gibt sich in dieser Gemengelage kleinlaut. Auf Anfrage räumt sie ein, dass es zeitweise „leider im Schülerverkehr nach Biberach sowie auch im Schüler- und Berufsverkehr zwischen Ehingen und Ulm zu Zugfahrten kam, die mit geringerer Kapazität erbracht wurden“. Und: „Hierfür möchten wir die betroffenen Kunden um Entschuldigung bitten.“Die Situation habe sich inzwischen stabilisiert, außerdem kündigte die Bahn an, vom 18. bis 26. Januar im Abschnitt Erbach-Ulm Zusatzbusse einzusetzen.
Dass sich die Krise kurzfristig beheben lässt, glaubt allerdings kein Experte, ganz zu schweigen von den Nachwirkungen bei der Kundschaft: „Die Leute zahlen, aber sie bekommen keine Gegenleistung“, sagt in diesem Zusammenhang der Biberacher Landtagsabgeordnete Thomas Dörflinger (CDU). Mit jenen Folgen, wie Landrat Heiner Scheffold befürchtet, dass „Eltern von Schulkindern ebenso wie Berufspendler sich anpassen und alternativ auf den motorisierten Individualverkehr ausweichen“. Eine nachhaltige Verkehrswende werde so nicht gelingen. Matthias Lieb sieht gar einen Paradigmenwechsel: „Früher war der Fahrplan maßgebend und zuverlässig.“Heute könne man ohne Smartphone und einer App, die anzeigt, wann und wo ein Zug kommt, nicht mehr Bahnfahren. „Das ist fatal. Weil wir wollen die Menschen ja auf die Schiene bringen.“
Der morgendliche Zug von Ehingen rollt schließlich in den Bahnhof Ulm ein. Was die Schaffnerin per Durchsage mit dem Zusatz ankündigt: „Pünktlich!!!“. Als ob es ein ungewöhnliches Ereignis zu betonen und auch zu feiern gebe.
„Heute kann man ohne Smartphone und App, die anzeigt, wo und wann ein Zug kommt, nicht mehr Bahnfahren.“ Matthias Lieb, Vorsitzender des Fahrgastbeirats