Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Ein starker, sicherer Rahmen
Kindergarten St. Anna unterstützt Kinder mit Förderbedarf im emotional-sozialen Bereich
LEUTKIRCH - Mark ist angespannt, er soll ein Kärtchen mit einem Mann im Supermarkt vom Boden hochheben. Er reagiert nicht, sitzt ruhig auf seinem Stuhl, blickt nach unten, schaut mürrisch und verschränkt die Arme. Er will nicht mitmachen. Für Gerlinde Mast ist das „schon in Ordnung“, wie sie sagt. Marks jüngerer Bruder Jonas übernimmt die Aufgabe. Er greift zum falschen Kärtchen und auch das versteht die Leiterin vom Schulkindergarten St. Anna in Leutkirch. „Er ist jung, noch keine drei Jahre alt. Wir haben ihn aufgenommen, weil er die Förderung hier ganz dringend braucht.“
Sieben Kinder sitzen im Kreis, alles Jungs, schauen auf die Kärtchen und sind hochkonzentriert. Meistens jedenfalls, zuweilen eskaliert es auch. Nicht alle warten, bis sie dran sind, nicht alle akzeptieren ein „Du nicht“und ab und zu geht das Temperament mit ihnen durch. Die Kinder, die aus dem gesamten Altkreis Wangen hierher kommen – übrigens mit einem Fahrdienst, den der Landkreis finanziert – und in den beiden Kleingruppen „Sternschnuppe“und „Rappelkiste“eine intensive Betreuung durch jeweils eine Erzieherin plus eine Praktikantin genießen, haben einen erhöhten „Förderbedarf im sozialemotionalen Bereich“.
Dieser „besondere Förderbedarf“wird von Eltern, Erzieherinnen aus dem Regelkindergarten oder auch von Kinderärzten erkannt. „Zu uns kommen oft Kinder, die in anderen Kindergärten nicht integrierbar waren“, erzählt Gerlinde Mast, die Lehrerin an der benachbarten Schule St. Anna ist und mit einem Teilauftrag auch den Kindergarten leitet. „Da stören sie, ärgern andere, halten keine Regeln ein, können sich nicht anpassen und ecken ständig an. In den großen Gruppen, die es meist in den Regelkindergärten gibt, sind sie überfordert. Sie benötigen einen sicheren Rahmen, in dem sie sich angenommen fühlen und neues angemessenes Verhalten lernen und üben können.“Ein Mädchen weigerte sich, mit Erwachsenen zu sprechen als sie herkam. Im behüteten Umfeld kann sie sich nun öffnen. Sie spricht inzwischen und lacht viel. „Feste Bezugspersonen sind dafür ganz wichtig“, sagt Mast, „wir bieten einfach einen sehr sicheren Rahmen.“Dazu gehört auch, dass die Praktikantin und die FSJ-Praktikantin jeden Tag – ganz fest eingebunden – mit den Kindern zusammen sind.
Intensive Arbeit am Kind
Im Leutkircher Kindergarten St. Anna herrscht so kurz vor der Vesperpause eine ruhige Atmosphäre. Viel Platz und zahlreiche Räume gibt es für die intensive Arbeit am Kind. „So außergewöhnlich sind wir gar nicht“, sagt Mast, „wir gestalten ein ganz normales Kindergartenjahr“. Dazu gehören etwa Vogelfutter Herstellen im Winter, Osterzeit mit Osterfrühstück der Eltern und an Weihnachten ein Krippenspiel. „Gelingende Elternarbeit und Beratungsgespräche sind uns wichtig.“Jede Gruppe verfügt über zwei gut ausgestattete Räume.
Ein zusätzliches Zimmer steht für die Einzelförderung mit den Sonderschullehrerinnen zur Verfügung. Jedes Kind erhält wöchentlich eine individuelle, am Förderbedarf orientierte, gezielte Förderstunde. Bei Bedarf erhalten die Kinder Logopädie oder Ergotherapie im Haus. In der großen, offenen Küche wird viel zusammen gebacken, gekocht und gespült. So gut wie jeden Tag sind alle draußen, „auf unserem tollen Spielplatz“mit riesigen Schaukeln, Klettergeräten und Rutschen im Garten. „Bewegung ist das A und O – gerade bei uns“. Davon ist Gerlinde Mast überzeugt. „Beim Herumtollen entwickelt ein Kind Konzentration, Ausdauer und Geschicklichkeit, was für das Lernen enorm wichtig ist.“Selbstständigkeit, Selbstvertrauen gewinnen und Spracherweiterung sind weitere Ziele – wie es im Flyer heißt.
Dass der Kindergarten mit Personal oder auch Material und Geräten wie zum Beispiel den neuen mobilen Kinderfahrzeugen ausgestattet werden kann, liegt auch an der St.-AnnaStiftung. „Ohne die Zuschüsse der Gemeinden und die großzügige Unterstützung unserer Fördermitglieder und Spender“, sagt der geschäftsführende Vorstand und Leiter von St. Anna Michael Lindauer, „könnten wir diese Arbeit nicht leisten und so manche Fördermaßnahme nicht gewähren.“
Kinder finden Halt
Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern würden zunehmen, hört man oft. Gerlinde Mast weiß nicht, ob das stimmt. „Aber dass unsere Förderung den einzelnen Kindern sehr guttut“, das weiß sie. Ein Beweis dafür ist vielleicht die Tatsache, dass so gut wie fast alle Kinder nach ihrer St.-AnnaKindergartenzeit in normale Grundschulen eingeschult werden. „Das ist unser Ziel. Die Kinder lernen bei uns unglaublich viel“, sagt sie. „Deshalb sind klare Strukturen und Regeln bei uns sehr wichtig, durch unseren geregelten Alltag finden die Kinder Halt.“Und genau deswegen gibt es feste Rituale. Es gibt immer einen Morgenkreis, immer ein gemeinsames Vesper. Essen wird hier zum Lernfeld. „Gerade in der Essenssituation lernen sie viel“, so Mast. Wer Tischdienst hat, hat Tischdienst und wer mit Würfeln dran ist, ist mit Würfeln dran.
Der Sprachunterricht findet so ganz nebenbei statt. Einen „vollständigen Satz“fordert die Erzieherin von den Kindern, die auf die Kärtchen am Boden schauen. „Die Äpfel sind im Korb, genau, gut gemacht, Du bist ja genial“, lobt sie. Ein kleiner fünfjähriger Junge aus Somalia, der erst seit drei Monaten im Kindergarten ist, fühlt sich mit ganzen Sätzen überfordert. Er reißt seinem Nachbarn das Kärtchen aus der Hand. „Wir wissen nicht genau, was er alles erlebt hat“, erzählt Gerlinde Mast, „aber seine plötzlichen Wutanfälle lassen auf eine Traumatisierung schließen.“Er brauche besonders viel Aufmerksamkeit, keine vier Wochen sei er in einem anderen Kindergarten gewesen. Die Erzieherinnen erkannten, dass sie nicht auf seine besonderen Bedürfnisse eingehen konnten. Aufmerksamkeit bekommt er jetzt hier. Wenn’s nötig ist, auch mit Einzelförderung. Acht Stunden pro Woche steht jeder Gruppe ausgebildetes Sonderschulpersonal zur Verfügung. Gerlinde Mast ist überzeugt, „dass er sich bei uns entwickeln wird.“Und scheint sich darauf zu freuen.
13 Kinder (davon neun Jungs) sind momentan im St-Anna-Kindergarten. Das Einzugsgebiet ist der gesamte Altkreis Wangen. Ein Fahrdienst, den der Landkreis finanziert, befördert die Kinder täglich. Weitere Informationen erteilt der Schulkindergarten St. Anna, Kemptener Str. 11, 88299 Leutkirch, Telefon 07561/824144, E-Mail kindergarten@stiftung-stanna.de.