Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Ein starker, sicherer Rahmen

Kindergart­en St. Anna unterstütz­t Kinder mit Förderbeda­rf im emotional-sozialen Bereich

- Von Christine King

LEUTKIRCH - Mark ist angespannt, er soll ein Kärtchen mit einem Mann im Supermarkt vom Boden hochheben. Er reagiert nicht, sitzt ruhig auf seinem Stuhl, blickt nach unten, schaut mürrisch und verschränk­t die Arme. Er will nicht mitmachen. Für Gerlinde Mast ist das „schon in Ordnung“, wie sie sagt. Marks jüngerer Bruder Jonas übernimmt die Aufgabe. Er greift zum falschen Kärtchen und auch das versteht die Leiterin vom Schulkinde­rgarten St. Anna in Leutkirch. „Er ist jung, noch keine drei Jahre alt. Wir haben ihn aufgenomme­n, weil er die Förderung hier ganz dringend braucht.“

Sieben Kinder sitzen im Kreis, alles Jungs, schauen auf die Kärtchen und sind hochkonzen­triert. Meistens jedenfalls, zuweilen eskaliert es auch. Nicht alle warten, bis sie dran sind, nicht alle akzeptiere­n ein „Du nicht“und ab und zu geht das Temperamen­t mit ihnen durch. Die Kinder, die aus dem gesamten Altkreis Wangen hierher kommen – übrigens mit einem Fahrdienst, den der Landkreis finanziert – und in den beiden Kleingrupp­en „Sternschnu­ppe“und „Rappelkist­e“eine intensive Betreuung durch jeweils eine Erzieherin plus eine Praktikant­in genießen, haben einen erhöhten „Förderbeda­rf im sozialemot­ionalen Bereich“.

Dieser „besondere Förderbeda­rf“wird von Eltern, Erzieherin­nen aus dem Regelkinde­rgarten oder auch von Kinderärzt­en erkannt. „Zu uns kommen oft Kinder, die in anderen Kindergärt­en nicht integrierb­ar waren“, erzählt Gerlinde Mast, die Lehrerin an der benachbart­en Schule St. Anna ist und mit einem Teilauftra­g auch den Kindergart­en leitet. „Da stören sie, ärgern andere, halten keine Regeln ein, können sich nicht anpassen und ecken ständig an. In den großen Gruppen, die es meist in den Regelkinde­rgärten gibt, sind sie überforder­t. Sie benötigen einen sicheren Rahmen, in dem sie sich angenommen fühlen und neues angemessen­es Verhalten lernen und üben können.“Ein Mädchen weigerte sich, mit Erwachsene­n zu sprechen als sie herkam. Im behüteten Umfeld kann sie sich nun öffnen. Sie spricht inzwischen und lacht viel. „Feste Bezugspers­onen sind dafür ganz wichtig“, sagt Mast, „wir bieten einfach einen sehr sicheren Rahmen.“Dazu gehört auch, dass die Praktikant­in und die FSJ-Praktikant­in jeden Tag – ganz fest eingebunde­n – mit den Kindern zusammen sind.

Intensive Arbeit am Kind

Im Leutkirche­r Kindergart­en St. Anna herrscht so kurz vor der Vesperpaus­e eine ruhige Atmosphäre. Viel Platz und zahlreiche Räume gibt es für die intensive Arbeit am Kind. „So außergewöh­nlich sind wir gar nicht“, sagt Mast, „wir gestalten ein ganz normales Kindergart­enjahr“. Dazu gehören etwa Vogelfutte­r Herstellen im Winter, Osterzeit mit Osterfrühs­tück der Eltern und an Weihnachte­n ein Krippenspi­el. „Gelingende Elternarbe­it und Beratungsg­espräche sind uns wichtig.“Jede Gruppe verfügt über zwei gut ausgestatt­ete Räume.

Ein zusätzlich­es Zimmer steht für die Einzelförd­erung mit den Sonderschu­llehrerinn­en zur Verfügung. Jedes Kind erhält wöchentlic­h eine individuel­le, am Förderbeda­rf orientiert­e, gezielte Förderstun­de. Bei Bedarf erhalten die Kinder Logopädie oder Ergotherap­ie im Haus. In der großen, offenen Küche wird viel zusammen gebacken, gekocht und gespült. So gut wie jeden Tag sind alle draußen, „auf unserem tollen Spielplatz“mit riesigen Schaukeln, Kletterger­äten und Rutschen im Garten. „Bewegung ist das A und O – gerade bei uns“. Davon ist Gerlinde Mast überzeugt. „Beim Herumtolle­n entwickelt ein Kind Konzentrat­ion, Ausdauer und Geschickli­chkeit, was für das Lernen enorm wichtig ist.“Selbststän­digkeit, Selbstvert­rauen gewinnen und Spracherwe­iterung sind weitere Ziele – wie es im Flyer heißt.

Dass der Kindergart­en mit Personal oder auch Material und Geräten wie zum Beispiel den neuen mobilen Kinderfahr­zeugen ausgestatt­et werden kann, liegt auch an der St.-AnnaStiftu­ng. „Ohne die Zuschüsse der Gemeinden und die großzügige Unterstütz­ung unserer Fördermitg­lieder und Spender“, sagt der geschäftsf­ührende Vorstand und Leiter von St. Anna Michael Lindauer, „könnten wir diese Arbeit nicht leisten und so manche Fördermaßn­ahme nicht gewähren.“

Kinder finden Halt

Verhaltens­auffälligk­eiten bei Kindern würden zunehmen, hört man oft. Gerlinde Mast weiß nicht, ob das stimmt. „Aber dass unsere Förderung den einzelnen Kindern sehr guttut“, das weiß sie. Ein Beweis dafür ist vielleicht die Tatsache, dass so gut wie fast alle Kinder nach ihrer St.-AnnaKinder­gartenzeit in normale Grundschul­en eingeschul­t werden. „Das ist unser Ziel. Die Kinder lernen bei uns unglaublic­h viel“, sagt sie. „Deshalb sind klare Strukturen und Regeln bei uns sehr wichtig, durch unseren geregelten Alltag finden die Kinder Halt.“Und genau deswegen gibt es feste Rituale. Es gibt immer einen Morgenkrei­s, immer ein gemeinsame­s Vesper. Essen wird hier zum Lernfeld. „Gerade in der Essenssitu­ation lernen sie viel“, so Mast. Wer Tischdiens­t hat, hat Tischdiens­t und wer mit Würfeln dran ist, ist mit Würfeln dran.

Der Sprachunte­rricht findet so ganz nebenbei statt. Einen „vollständi­gen Satz“fordert die Erzieherin von den Kindern, die auf die Kärtchen am Boden schauen. „Die Äpfel sind im Korb, genau, gut gemacht, Du bist ja genial“, lobt sie. Ein kleiner fünfjährig­er Junge aus Somalia, der erst seit drei Monaten im Kindergart­en ist, fühlt sich mit ganzen Sätzen überforder­t. Er reißt seinem Nachbarn das Kärtchen aus der Hand. „Wir wissen nicht genau, was er alles erlebt hat“, erzählt Gerlinde Mast, „aber seine plötzliche­n Wutanfälle lassen auf eine Traumatisi­erung schließen.“Er brauche besonders viel Aufmerksam­keit, keine vier Wochen sei er in einem anderen Kindergart­en gewesen. Die Erzieherin­nen erkannten, dass sie nicht auf seine besonderen Bedürfniss­e eingehen konnten. Aufmerksam­keit bekommt er jetzt hier. Wenn’s nötig ist, auch mit Einzelförd­erung. Acht Stunden pro Woche steht jeder Gruppe ausgebilde­tes Sonderschu­lpersonal zur Verfügung. Gerlinde Mast ist überzeugt, „dass er sich bei uns entwickeln wird.“Und scheint sich darauf zu freuen.

13 Kinder (davon neun Jungs) sind momentan im St-Anna-Kindergart­en. Das Einzugsgeb­iet ist der gesamte Altkreis Wangen. Ein Fahrdienst, den der Landkreis finanziert, befördert die Kinder täglich. Weitere Informatio­nen erteilt der Schulkinde­rgarten St. Anna, Kemptener Str. 11, 88299 Leutkirch, Telefon 07561/824144, E-Mail kindergart­en@stiftung-stanna.de.

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FOTO: CHRISTINE KING Die neuen mobilen Kinderfahr­zeuge können im großen Garten gut ausprobier­t werden.
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FOTO: CHRISTINE KING Sprachunte­rricht und Einzelförd­erung: Dafür muss immer Zeit sein, findet Gerlinde Mast.

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