Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Wir haben ein Demokratiedefizit“
Der Kemptener Lajos Fischer vertritt bundesweit Menschen mit Migrationshintergrund
KEMPTEN - „Grenzen zwischen Menschen und Kulturen zu überwinden, bedeutet für mich eine große Freude und eine persönliche Bereicherung, aber auch einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben in unserer globalen Welt.“Mit diesen Worten stellt sich Lajos Fischer auf der Internetseite des Bundeszuwanderungsund Migrationsrats (BZI) vor. Seit einem halben Jahr ist der Kemptener dessen Vorsitzender. Damit vertritt der 55-Jährige bundesweit Menschen, die nach Deutschland zugewandert oder geflüchtet sind. In dieser Zeit hat Fischer, der in Kempten die Geschäfte im „Haus International“führt, auch Einblick in andere Regionen erhalten. Das Interview führte Aimée Jajes.
Alle sprechen über Integration. Doch wie erfolgreich ist diese überhaupt?
Ich spreche inzwischen nicht gern von Integration. Wir leben in einem Einwanderungsland mit dem Ziel, eine Einwanderungsgesellschaft zu werden. Grundlage des Zusammenlebens sind unser Grundgesetz und unsere Werte, die dahinterstecken. Menschen, die diese anerkennen und im Alltag leben, sind integriert. Und das ist beim größten Teil der Fall. Es stellt sich eher die Frage der Partizipation, also der Teilhabe. Wenn Menschen hier leben, arbeiten und Kinder erziehen, sollten sie genauso viel Rechte haben wie andere. Aber in Deutschland haben wir ein Demokratiedefizit.
Was heißt das?
Etwa zehn Prozent derer, die hier leben, hat kein Wahlrecht. Dabei wäre es wichtig, die Menschen politisch mitzunehmen. Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland im Schnitt seit neunzehn Jahren. Sie sollten wählen dürfen – und konsequenterweise in dem Land, aus dem sie kommen, auf ihr Wahlrecht verzichten. Das wäre Partizipation. Integrieren sollten wir hingegen die Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft nicht gefunden haben. Die sich nicht wohlfühlen und das Rad der Geschichte um Jahrzehnte zurückdrehen wollen.
Was ist hier zu tun?
Zuerst ist es wichtig, bewusst zu machen, dass in dieser Richtung politische Programme nötig sind. Es wäre zu populistisch, Integrationskurse für Rechtspopulisten zu fordern. Aber man muss in die Milieus hineingehen. Politische Bildung gehört dazu, genauso wie eine bewusste Sozialpolitik, die auf die Probleme der Menschen eingeht. Aus meiner Sicht kann man populistisch geprägte Parteien nicht in der Mitte der Gesellschaft akzeptieren.
Sie spielen auf die AfD an?
Ja. Hier ist als Erstes festzuhalten, dass diese viele Stimmen durch Protestwähler bekommen hat. Diese haben anderswo kein Gehör gefunden. Das muss sich ändern. Für rechte Parteien gibt es das Eisbergmodell. Man sieht, was über dem Wasser ist. Das Fundament aber befindet sich unter dem Wasser. In den vergangenen Jahren wurde der Teil über dem Wasser immer sichtbarer. Die AfD hat in den Medien zu viel Platz bekommen, wodurch die Basis breiter geworden ist. Sie hat einen Platz bekommen, der ihrem politischen Gewicht nicht entspricht. Man muss an die Basis rangehen – dann kippt der Eisberg. Gleichzeitig halte ich es für wichtig, dass wir Demokraten Gesicht zeigen. Und für unsere europäischen Werte aktiv einstehen, um über den öffentlichen Diskurs die Oberhand zurückzugewinnen.
Sie sind nun deutschlandweit aktiv. Wie bewerten Sie die Situation in Kempten im Vergleich zu anderswo in der Republik?
In Kempten haben wir im Vergleich noch eine glückliche Situation. Im Allgemeinen sind die Menschen hier sehr offen, sichtbare rassistische Tendenzen gibt es so gut wie nicht. Es gibt die AfD in Kempten – sie tritt aber nicht groß in der Öffentlichkeit auf und hat kein politisches Gewicht. Ich habe das Gefühl, dass das Zusammenleben bei uns relativ gut funktioniert. Wir sind aber sicher auch nicht die Insel der Glückseligen. Auch bei uns wird Stimmung gemacht gegen Flüchtlinge. Das erleben wir im Alltag.
Sie leben seit 1990 in Deutschland. Wie bewerten Sie die Entwicklung seitdem?
Es ist sehr schwierig, die ganze Zeit zu beschreiben. Aber allein fünf Jahre zurückgeschaut: Wenn da jemand gesagt hätte, dass Demokratie nicht mehr selbstverständlich ist und man um sie kämpfen muss – unvorstellbar. In dieser Hinsicht hat sich in den letzten Jahren einiges verändert – und nicht zum Guten. Dabei geht es uns noch gut. Doch wenn ich nach Ungarn oder Österreich schaue, dann bin ich wegen der Zukunft meiner Kinder und Enkelkinder nicht unbedingt beruhigt.
Was sind Ihre Ziele als Vorsitzender der Integrationsbeauftragten in Deutschland?
An erster Stelle steht ein klares Bekenntnis zur Demokratie. Dann will ich die Strukturen, die wir im ersten halben Jahr aufgebaut haben, stabilisieren und erste Projekte zum Laufen bringen. Ein Ziel ist das Wahlrecht: Jeder, der eine bestimmte Zeit hier lebt, soll zumindest kommunal wählen dürfen. Die politischen Entscheidungen betreffen schließlich alle, die hier leben, und nicht nur die, die einen deutschen Pass haben. Dazu gehört, dass wir schauen wollen, dass auch in der Migrationsgesellschaft die Akzeptanz der Demokratie höher wird. Wir wollen auf Menschen zugehen, die Zweifel haben. Allgemein wünsche ich mir, dass wir uns wirklich mal besinnen und wieder schätzen lernen, dass wir in dieser Zeit hier leben können. Dass wir uns in die Menschen hineinversetzen, denen das Schicksal nicht so gnädig ist.