Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
SPD ringt sich zum Ja durch
Parteitag stimmt Aufnahme von Koalitionsgesprächen zu – Vorstand zeigt sich erleichtert
BONN - Nach einer sehr intensiven und kontroversen Diskussion hat der SPD-Sonderparteitag in Bonn der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union zugestimmt. Das Ergebnis fiel knapp aus: 56,4 Prozent von 642 Delegierten und Vorstandsmitgliedern gaben ihr Okay. Die Gespräche über eine Neuauflage der Großen Koalition können damit in den nächsten Tagen beginnen. Danach muss aber noch eine weitere Hürde überwunden werden: Die mehr als 440 000 SPD-Mitglieder stimmen über den Koalitionsvertrag ab und haben damit das letzte Wort.
Zuvor hatte SPD-Parteichef Martin Schulz in seiner Rede für die Erfolge im Sondierungsvertrag geworben. Den Gegnern der GroKo stellte er in Aussicht, bei der Frage der sachgrundlosen Befristung nicht lockerzulassen, weiter für die Bürgerversicherung zu kämpfen und eine Härtefallregel beim Familiennachzug hinzubekommen. Die Forderungen wurden auf Drängen der Skeptiker auch in einem Leitantrag festgehalten.
Nachdem immer wieder der Ruf nach einer Erneuerung der Partei in der Opposition laut geworden war, versprach Schulz: „Regieren und erneuern schließen sich nicht aus.“Es sei der mutigere Weg, zu regieren und zu zeigen, dass man Gutes für Land und Leute erreichen könne. „Gebt uns den Weg frei“, hatte Schulz geworben. Die gesamte Parteispitze hatte Schulz unterstützt und für Verhandlungen geworben. Doch das Lager der Gegner war groß.
Kevin Kühnert, Juso-Chef und Wortführer der Initiative NoGroKo, hatte zuvor gesagt, wie immer man sich entscheide, es werde wehtun. Kühnert sprach von einer immensen Vertrauenskrise der Parteien seit Jahren und davon, dass die SPD sich freiwillig kleinmache. Wenn man in einer Kneipe wäre, würde er sagen, „die Union schreibt seit Jahren bei uns an“. Den Spott Alexander Dobrindts (CSU), der über den „Zwergenaufstand in der SPD“gelästert hatte, nahm Kühnert auf und forderte von den Genossen: „Lasst uns heute einmal ein Zwerg sein, um anschließend wieder Riese sein zu können“.
Temperamentvoll griff Fraktionschefin Andrea Nahles diesen Ball auf. „Wir werden verhandeln, bis es quietscht“, versprach Nahles unter großem Applaus des Parteitags. „Wir geben die SPD nicht auf.“Auch DGBChef Reiner Hoffmann warb noch einmal für das Sondierungsergebnis. Es stelle die Parität wieder her und ermögliche einen neuen Vorstoß gemeinsam mit Frankreich und den Gewerkschaften. SPD-Vize Ralf Stegner stellte klar, dass es mit der SPD keine Obergrenze gebe. SPD-Vize Malu Dreyer, die zu den Skeptikern gehörte, hatte zu Beginn des Parteitags die Delegierten aufgefordert, zuzustimmen. „Ich halte es für richtig, in eine GroKo zu gehen“, sagte sie. Denn man könne Gutes für die Menschen tun, und sie wolle gestalten.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) begrüßte das Okay der SPD. Ihr Parteifreund Thomas Bareiß, Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Sigmaringen, warnte die SPD vor überzogenen Forderungen in den Verhandlungen. „Die Ergebnisse der Sondierungen sind nicht beliebig auslegbar“, so Bareiß. „Die CDU hätte auch noch viele Wünsche und Änderungen.“
BONN - Mehr Leidenschaft war selten bei einem SPD-Parteitag. Auf der Bühne werben Befürworter und Gegner der Großen Koalition mit Herzblut für ihre jeweilige Position, im Publikum brandet immer wieder spontaner Applaus auf. Die Sozialdemokraten ringen hart mit sich.
Reichen die Ergebnisse der Sondierungsgespräche als Basis für eine neue Große Koalition? Wie schwer wiegt die Verantwortung für Deutschland und Europa? Und wie hoch wird der Preis sein für die SPD, wenn sie wieder als Juniorpartner in eine Koalition eintritt? Um diese Fragen dreht sich an diesem Sonntag im Bonner Kongresszentrum alles. Die Stimmung im Saal scheint deutlich gegen die Neuauflage eines Regierungsbündnisses mit der Union zu sein. Deshalb ist klar: Die Abstimmung wird knapp ausfallen – so oder so. Am Ende haben sich die GroKoBefürworter durchgesetzt – mit gut 56 Prozent von 642 abgegebenen Stimmen. Doch auch das ist deutlich zu spüren: Der Parteivorsitzende Martin Schulz hat größte Mühe, die Delegierten zu überzeugen. Dagegen wirbt Fraktionschefin Andrea Nahles mit soviel Wortgewalt und Herzblut für eine neue GroKo, dass alles andere den Delegierten nahezu unsinnig erscheinen muss.
Das Große im Kleinen
„Die Bürger zeigen uns doch den Vogel, wenn wir nicht in eine Große Koalition gehen, weil wir nicht 100 Prozent unserer Forderungen durchsetzen konnten“, poltert Nahles auf der Bühne. Sie habe immer versucht, in der Politik das Große im Kleinen zu sehen. Deshalb habe sie mit aller Kraft für den Mindestlohn gekämpft, deshalb sei sie in der SPD. Und weiter: „Wir geben doch die SPD nicht auf in dem Moment, in dem wir uns entscheiden, mit den anderen zu regieren.“Dann verspricht sie noch zu verhandeln, „bis es quietscht“, falls es zu Koalitionsgesprächen kommen sollte. Das zieht bei den Delegierten. Auch diejenigen, die seit Stunden immer kleinlauter wurden, weil die GroKo-Gegner Oberwasser zu haben scheinen, schöpfen wieder Hoffnung. Ganz anders nach der Rede von Martin Schulz: Kaffee und Energieriegel werden verzehrt, um wieder zu Konzentration zu finden. Der Parteichef spricht lang, reiht Sätze aneinander, mit denen er die Delegierten davon überzeugen will, wie wichtig es ist, in Koalitionsgespräche zu gehen. Aber der Funke springt nicht über. „Regieren und erneuern schließen sich nicht aus“, sagt Schulz und wirbt dafür, sich in der Regierung zu erneuern – wie eigentlich alle anderen Parteifunktionäre auch.
Dass auch Schulz für eine Sache brennen kann, zeigt sich erst, als der frühere Präsident des Europäischen Parlaments über die Europäische Union spricht. Wie wichtig es sei, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron jetzt nicht hängen zu lassen, wie viel Gutes in dem Sondierungspapier auch für verschuldete Staaten wie Griechenland stecke. Das finden die SPD-Mitglieder sicherlich auch wichtig, aber letztlich geht es ihnen heute um ihre eigene Partei. Nur eine knappe Minute dauert der Beifall, als Schulz mit seiner 60-seitigen Rede durch ist. In diesem Moment wird greifbar, warum die Sozialdemokraten nach dem furiosen Start von Schulz im vergangenen Jahr nicht weitergekommen sind mit ihm. Er wirkt bemüht, redlich, verantwortungsbewusst, nur mitreißen kann er nicht. Für eine Partei im historischen Umfragetief ein Problem.
Das Kontrastprogramm dazu: der Auftritt des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert. Der 28-jährige Berliner, der mit seiner NoGroKo-Online-Initiative in den vergangenen Tagen groß herauskam, punktet auch heute wieder bei den Delegierten, vor allem bei jenen, die jünger sind als 40 Jahre. Auf etwa drei Minuten Rede folgt großer Applaus, vor allem von der Empore, auf der viele Jusos den Parteitag verfolgen. Sie tragen rote Zwergenmützen – ein Gruß an CSULandesgruppenchef Alexander Dobrindt, der nach dem Ende der Sondierungen von einem „Zwergenaufstand“in der SPD gesprochen hatte.
Sehnsucht nach klarer Haltung
Die SPD sei in der Großen Koalition aufgetreten „wie die Pressesprecher der Koalition, aber nicht wie der Koalitionspartner“, kritisiert Kühnert die SPD-Führung. Das geht natürlich gegen sozialdemokratische Regierungsmitglieder wie Andrea Nahles und Katarina Barley. Aber es geht im Grunde gegen alle, die seit Jahren die Sozialdemokraten in der Öffentlichkeit vertreten. Die jüngeren Parteimitglieder, das wird bei Kühnert und vielen anderen klar, sehnen sich nach einem neuen Selbstbewusstsein und einer klaren Haltung der SPD. Sie wollen wieder stolze SPD-Mitglieder sein – und deshalb lieber in die Opposition als an die Regierung.
Kurz nach 16 Uhr steht fest: Die Jusos und all jene, die nicht länger Juniorpartner der Union sein wollen, haben ihr Ziel nicht erreicht. 362 Delegierte und Mitglieder des Parteivorstands stimmen mit Ja, 279 mit Nein, ein Delegierter enthält sich. Das ist ein klareres Votum pro GroKo, als die meisten erwartet haben. Doch letztlich wirken alle ganz zufrieden. Vielleicht hat es den Sozialdemokraten und ihrem angeknacksten Selbstbewusstsein schlicht gut getan hat, für einen Tag im Blickpunkt Deutschlands, Europas, vielleicht sogar der Welt zu stehen.